Hugo Schuchardt an Emilio Teza (49-ST29)

von Hugo Schuchardt

an Emilio Teza

Neapel

19. 04. 1896

language Deutsch

Schlagwörter: Großherzogliche Bibliothek Weimar Cocchia, Rocco D´Ovidio, Francesco P. Apollinare a Valentia in Delphinatu (1886) Homeyer, Gerda (1989) Oliviero, Vincenzo (1986) Shurgaia, Gaga (2016) Schuchardt, Hugo (1896) Vulpius, Christian August (1778)

Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Emilio Teza (49-ST29). Neapel, 19. 04. 1896. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2018). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.6243, abgerufen am 27. 09. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.6243.


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Neapel, Hotel Londres
19 April 1896

Lieber Freund!

Seit fast drei Wochen bin ich nun in Neapel, und habe bisher keinen einzigen Tag gehabt der nach meinem Geschmack gewesen wäre, und kaum einen oder zwei der anderen Menschen völlig befriedigt hätte. Meine Nerven haben darunter sehr gelitten und mich wiederum an Allem gehindert. Indessen habe ich doch in Bezug auf die georgischen Dinge einiges leisten können. Ich habe das Buch von |2| P. Rocco eingesehen,1 und zunächst festgestellt dass es unvollendet geblieben ist, insbesondere über das 18. Jhrh., das für Ihre Grammatik in Betracht kommt, Nichts enthält. D’Ovidio hat an den Verfasser, jetzt Erzbischof von Chieti (Onkel des Professors E. Cocchia) für mich geschrieben2 Sehr interessant sind die Nachrichten über Bernardo da Napoli und am Meisten die – von der Sie mir keine Mitteilung gemacht hatten – dass er ein Gedicht Rešaniani und eine Erzählung von König Baaman in georgischer Sprache hinterlassen habe.3 Vermutlich sind das nur Kopien von ächtgeorgischen Litteraturwerken. |3| Zumbini in Portici war so gütig für mich in dem benachbarten Torre del Greco Nachforschungen anzustellen, die zunächst kein Ergebnis hatten.4 Die Bibliothek der Kapuziner war in das Municipio gekommen, und hier fand sich gar nichts vor. Ich drängte zu weiteren Bemühungen, und infolge derselben ist, auf eine ganz unerwartete Weise, in der That Etwas gefunden worden, in dem jetzt Nonnen zum Aufenthalt dienenden Kloster selbst, an einem versteckten Platz: mit andern vernachlässigten und zerfetzten Handschriften das ziemlich umfangreiche Sbozzo eines georgisch=ital. Wtbs. und die Uebersetzung der vier Evangelien von der Hand des Bernardo da Napoli. |4| Beide habe ich gestern in der Universitätsbibliothek eingehend untersucht und werde mich noch einmal mit ihnen beschäftigen.5 So viel ich sehe, ist der Text der Evangelien der der alten georgischen Uebersetzung; es lässt sich auch schwer denken warum der Kapuziner sich die Mühe gegeben haben sollte, selbst eine Uebersetzung anzufertigen. Das Wörterbuch dürfte – freilich auch nur im Sinne der Geschichte der grammatischen Litteratur – von mehr Wert für uns sein. Ich werde sehen ob nicht Andres – auch an andern Orten – von der litterarischen Thätigkeit der georgischen Missionäre übrig ist. Die Hoffnung ist eine geringe, man scheint mit den Bibliotheken der Klöster im Jahre 18666 unverantwortlich=fahrlässig und pietätlos umgegangen zu sein. Sobald ich noch einen oder zwei schöne Tage gehabt haben werde (um Pompei u.s.w. zu besuchen) – freilich kann ich nicht mehr gar lange |5| warten – werde ich mich auf den Heimweg machen. Ist es mir irgendwie möglich, so bleibe ich ein paar Stunden in Padua, um Ihnen meine Sympathie und Verehrung persönlich zu bezeigen.

Dass Sie erst am Mittwoch den 1. April die Bücher erhalten haben, die am vorhergehenden Donnerstag um 3 Uhr Nachmittag in Graz aufgegeben worden waren, hat mich mit Verwunderung erfüllt. Ich werde Ihnen mein Recepisse von Graz aus schicken, vielleicht erkundigen Sie sich bei Ihrer Post wegen dieses Sachverhaltes.

Meine magyarische Expectoration über die Personennamen werden Sie erhalten haben.7 Als Nachtrag |6| dazu die Bemerkung, dass uns Deutschen Rinaldo Köhler8 besonders denjenigen die diesen bravo e buono uomo persönlich gekannt haben, sehr lustig vorkommt; denn keinen gibt es dem dabei nicht der Räuberhauptmann Rinaldo Rinaldini9 einfiele. Und ganz erstaunlich würde uns Deutschen ein Rüdiger Bonghi10 sein.

Mit herzlichem Grusse

Ihr ergebener

HSchuchardt


1 Vgl. Schuchardts Brief 39-ST23 vom 23.2.1896.

2 Vgl. die Briefe Bf. Cocchias (1830-1901) an Schuchardt, HSA, Bibl.Nr. 01648-01650. Der Kapuzinerpater Rocco Cocchia wurde 1876 Titularerzbischof von Sirace in Armenien, 1883 Ebf. von Otranto und 1887 von Chieti. Auch mit dem Neffen, Enrico Cocchia (1859-1930), Prof. d. Klass. Philologie in Neapel, gibt es eine Korrespondenz (HSA, Bibl.Nr. 01640-01647).

3 Schuchardt stützt sich hier auf P. Apollinare a Valentia in Delphinatu, Bibliotheca Fratrum Minorum Cappuccinorum Provinciae Neapolitanae, Rom-Neapel 1886, S. 165: „BERNARDUS-MARIA a Napoli I. n. 9: Il Rescianiano, o gli avvenimenti di Resciano e Manisgiana, Poemetto. In lingua Giorgiana. MSC. (1707). n. 8: Dal re Baaman. In lingua Giorgiana. MSC. (1707).“

4 Es gibt zwei in diesem Zusammenhang wichtige Briefe Schuchardts an Zumbini (Neapel 12.4. und 13.4.1896), die Gerda Homeyer, Beiträge zur Geschichte der deutschen Romanistik, Frankfurt a.M. 1989, 59-60, publiziert hat. Aus dem zweiten Brief wird der hier interessierende Passus mitgeteilt: „Heute habe ich endlich die Kraft gefunden um das Buch des Padre Rocco selbst einzusehen. Da entdeckte ich denn, dass Bernardo Da Napoli’s Thätigkeit eine weit interessantere gewesen ist, als ich nach Teza’s auszugsweiser Angabe vermuthete. Er hat ein Gedicht geschrieben: Il Rescianiano (mit der Endung –iani bilden die Georgier Bezeichungen von Epen; sie entspricht unserem –ide: Eneide, Teseide). Und eine Novelle von König Batman. Er hat also georgische Stoffe nach georgischer Art behandelt: dieser Napolitaner gehört der georgischen Litteratur an, und seine Landsleute müssen sich bemühen, die Zeugnisse für dieses in seiner Art einzige Factum wieder ans Licht zu bringen. Der Padre Rocco sagt, dass die Handschriften dieser beiden Arbeiten sowie die Übersetzungen und zwei Entwürfe von Wörterbüchern sich im Kloster der Kapuziner in Torre del Greco befinden. Sino alla soppressione. Wenn Sie nach dieser (wann mag sie stattgefunden haben; natürlich existiren noch genug Personen, die dabei gegenwärtig waren) nicht ins Municipio gekommen sind, so müssen sie, vielleicht in Anbetracht ihres besonderen Charakters an irgendeinen anderen ihrer würdigen Ort gekommen sein, etwa nach Rom, in die Propaganda? Das müsste sich doch ermitteln lassen“. Die Korrespondenz zwischen Schuchardt und Zumbini wurde wegen der Fehlerhaftigkeit der Bearbeitung durch Gerda Homeyer im HSA neu veröffentlicht, vgl. Lfd.Nr. 01-13052 - 12-13057 [Anm. des Herausgebers].

5 Vgl. die Einzelheiten bei Vincenzo Oliviero, La chiesa della SS. Annunziat: fede, storia, arte, Torre del Greco, 1986: „F. Castaldo nel 1896 ebbe l’incarico dal Comune di inventariare e riordinare tale biblioteca pur essendo la loro Storia di Torre già stata pubblicata nel 1890. A lavoro terminato presentò in data 27 maggio 1897 una relazione all’Amministrazione comunale da cui risulta che i volumi erano complessivamente 2649. […] A proposito dei manoscritti in lingua georgiana, il Di Donna enumera una quindicina. Essi contengono lettere, opere mistiche, epistolario Paolino, dizionario Italiano Georgiano, opere di letteratura georgiana ecc. Essi furono portati da Padre Bernardo da Napoli, cappuccino che da ritorno da una missione in Georgia fu destinato al Convento di Torre del Greco. Il Di Donna è ancora più esplicito sull’importanza di tale biblioteca. […] I manoscritti georgiani attualmente si trovano presso la Biblioteca Nazionale di Napoli“. - Die aktuellste Arbeit zum Thema stammt von Gaga Shurgaia, „Bernarde neap’oleliseuli xelnac’erebi [I manoscritti di Bernardo Maria da Napoli]“, SJANI, 17, 2016, 181-209.

6 Das Jahr 1866 wird vom Dritten italienischen Unabhängigkeitskrieg geprägt, in dem Österreich zwar siegte, aber unter preußischem Druck auf Venetien verzichten musste. Allerdings ist ohne nähere Nachforschung nicht ersichtlich, welchen Einfluss die politischen Ereignisse auf den Umgang mit Kirchengut hatten.

7 Schuchardt, „A keresztnevek ,fordítása‘”, Magyar Nyelvőr 25, 1895, 97-107 [Dt. „Die Übersetzung der Namen“].

8 Reinhold Köhler (1830-1892) war der Oberbibliothekar der Herzoglichen Bibliothek in Weimar.

9 Titel des Romans Rinaldo Rinaldini, der Räuberhauptmann, der in 3 Bänden 1778 in Leipzig erschien und den Goethe-Schwager Christian August Vulpius zum Verfasser hat. Zu Einzelheiten vgl. Schuchardts Karte an Herbert Steiner (HSA, Lfd.Nr. 24-57.35.83 vom 30.9.1921).

10 Ruggero / Ruggiero Bonghi (1826-1895), ital. Altphilologe und homo politicus.

Faksimiles: Biblioteca Nazionale Marciana - Fondo Teza (Sig. ST29)