Gustav Gröber an Hugo Schuchardt (056-04054)

von Gustav Gröber

an Hugo Schuchardt

Ruprechtsau

28. 02. 1886

language Deutsch

Schlagwörter: Grundriss der romanischen Philologie Prinzipien der Sprachgeschichte (Paul) École des Chartes Akzent - Akzentforschung D´Ovidio, Francesco Baist, Gottfried Morel Fatio, Alfred Paul, Hermann Gröber, Gustav (1888) Cornu, Julius (1888) Meyer-Lübke, Wilhelm/Ovidio, Francesco d' (1888) Paul, Hermann (1886)

Zitiervorschlag: Gustav Gröber an Hugo Schuchardt (056-04054). Ruprechtsau, 28. 02. 1886. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2017). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.5897, abgerufen am 29. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.5897.


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Lieber Freund

– diese Woche endlich werde ich den Rest meines Aufsatzes über die sprachwiss. Forschung1 Ihnen senden können. Die erste Correctur war wegen der zahllosen Druckfehler noch nicht präsentabel; die zweite wird hoffentlich würdig genug sein, um gesehen werden zu können. Das Heft (17. Bogen) wird in 14 Tagen fertig sein. Inzwischen ist Frau Michaelis2 erkrankt, und ich muß einen neuen Bearbeiter für die portug. Sprache u. portug. Litteratur suchen;3d'Ovidio4 hält uns hin mit seiner Augenkrankheit, Baist5 bringt Morel-Fatio6 an seine Stelle; ich hätte nicht für möglich gehalten, daß noch im letzten Moment Aendrungen eintreten würden u. das Prospect ein andres Gesicht bekäme. Die „besondre Methodenlehre“, die Paul in seiner, dem Rückzug ziemlich ähnelnden Entgegnung im Auge hat,7 ist jene berühmte Einsicht in das Wesen und das Leben der Sprache, von denen die, die sich ihrer berühmen, am wenigsten zu wissen pflegen, woher sie kommt; aprioristische Ansichten, denen der Character des Dogmas aufgedrückt, statt daß sie als Leitfaden und ein durch die Erkenntnis a posteriori der Berichtigung unterliegender Wegweiser gilt. P[aul] spricht Ihnen offenbar diese Einsicht ab. Wie sein Versuch sich durch eine Characteristik Ihrer Denkweise Ihrer zu erwehren, so mißfällt mir diese verschleierte Grobheit, deren ich P. nicht fähig gehalten hätte. Bei wem soll sie seiner Sache nutzen? – Sie haben recht; ich habe Ihre píeta u. piéta mit vieni und vĕni vermischt. Bei letztrem und seinem Einfluß auf die sonstigen e (ie) denken Sie jedoch zunächst nur an das theoretisch mögliche, und schließen die Auffassung nicht aus, wonach der Accentie aus ĕ, ohne Rücksicht auf den nachfolgenden Vocal, hervorbringen konnte; oder wenn i in der nachtonigen Silbe Ursache des ie, warum dann nicht ie in credi, *vĕrmi-s u. dgl., u. dieses nur südital. u.s.w.?

Bestens grüßend

Ihr

GGr.

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1 Grundriss I, 1888,II. Abschnit. Die Behandlung der Quellen. A. Methodik und Aufgaben der sprachwissenschaftlichen Forschung“, 209f.

2 Über ihren labilen Gesundheitszustand schreibt Carolina Michaëlis de Vasconcellos z.B. am 21.7.1886 (Lfd. Nr. 22-7324) an Schuchardt: „Es ist mir seit Jahren, besonders aber seit Dec. 85, recht schlecht gegangen. Schlaflosigkeit u. eine hochgradig peinigende Nervosität haben mich zu einem so bedenklichen Schwachzustand gebracht, daß ich alle u. jede Arbeit ruhen lassen mußte – um ein bewegungsloses, stilles Pflanzenleben zu führen. – Seit Wochen reise ich hier von Bad zu Bad – und gedenke demnächst (im Herbst) bei meiner Familie in Berlin für einige Zeit zu rasten“.

3 An ihre Stelle trat Jules Cornu; Grundriss I, 1888, 715-803.

4 Francesco d’Ovidio, Romanist, Prof. in Neapel. Das Kap. „Die italienische Sprache“ wurde von D’Ovidio und Wilhem Meyer-Lübke gemeinsam verfasst: Grundriss I, 1888, 489-560.

5 Gottfried Baist, Romanist in Freiburg i. Br. Vgl. Baists Briefe an Schuchardt.

6 Alfred Morel-Fatio, Romanist, Hispanist, u.a. Sekretär an der École nationale des chartes in Paris. Vgl. die Korrespondenz zwischen Morel-Fatio und Schuchardt.

7 Paul fügt in die 2. Aufl. (1886) der Principien der Sprachgeschichte ein grundlegendes Kap. „Entstehung der wortbildung und flexion“ (zur Wortbildungslehre) ein.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 04054)