Gustav Gröber an Hugo Schuchardt (053-04051)

von Gustav Gröber

an Hugo Schuchardt

Ruprechtsau

07. 02. 1886

language Deutsch

Schlagwörter: Organisation von Korrespondenz Reflexion über Philologiebegriff Sprachgeschichte (intern) Sprachwissenschaft (Reflexion) Literaturwissenschaft Romanische Philologie Junggrammatiker Grundriss der romanischen Philologie Sprachwissenschaftlanguage Langue bleue (Bolak)language Rätoromanische Sprachen Gartner, Theodor Paul, Hermann Osthoff, Hermann Gröber, Gustav (1888) Schuchardt, Hugo (1885) Osthoff, Hermann/Brugmann, Karl (Hrsg.) (1878) Gröber, Gustav (1888)

Zitiervorschlag: Gustav Gröber an Hugo Schuchardt (053-04051). Ruprechtsau, 07. 02. 1886. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2017). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.5894, abgerufen am 19. 09. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.5894.


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Ruprechtsau-Straßburg i/E. 7.2.86.

Lieber Freund.

Leider konnte ich Ihren Brief vom 25. Jan. am vergangenen Sonntag (mein Schreibtag) wegen anderer (Zeitschrift etc.-) Correspondenzen nicht beantworten und ich mußte ihn für den heutigen Ruhetag zurücklegen, da mir in der Woche nur die Zeit zur Postkartencorrespondenz bleibt.

Ich gebe zu, daß die Zusammenfassung von litteratur- und sprachwissenschaftlicher Forschung, für die ich mich S. 146 entschied,1 genauer hätte begründet werden sollen. Ich hätte es sicher versucht, wenn ich mich erinnert hätte, daß Sie für die Trennung eingetreten sind. Ich weis allerdings auch gegenwärtig noch nicht die Stelle, wo Sie darüber gesprochen,2 und diesem Umstand allein dürfen Sie es zuschreiben, daß ich mich für eine Auffassung entschied, ohne einer entgegenstehenden eingehend zu gedenken. Geht nun Ihre Meinung dahin, daß in den geschichtlichen Wissenschaften eine Sprachwissenschaft als in sich beschlossenes Forschungsgebiet anerkannt werden müßte, die alle Sprachen zusammenfaßte und von der die romanische einen Theil bildete, der mit der Wissenschaft von denjenigen Sprachen zu verbinden wäre, die mit den romanischen in Berührung getreten sind, mit germanischer, keltischer, slavischer Sprache u.s.w., so will es mir scheinen, daß das eigentliche Ziel dieser historischen Sprachwissenschaft die Etymologie und Lautgeschichte ausschließlich sei. Oder wäre jene Verbindung nothwendig für Erhellung der Geschichte des romanischen Satzbaues, u. der Bedeutungsentwickelung rom. Wörter? Und lassen sich diese Theile aus der rom. Sprachwissenschaft aussondern? Uebt der aber, der sie erforscht, nicht philologische Thätigkeiten aus? Bedarf er nicht der Versenkung in die litterarische Ueberlieferung einer Sprache, um Wortsinn und Satzgestaltungen in historischen Zusammenhang zu bringen, und muß er sie nicht zuvor beim einzelnen Schriftsteller u. in verschiedenen Sprachepochen festgestellt haben? Oder wem soll dieses Feststellen der sprachgeschichtlichen Thatsachen überwiesen werden? Etwa dem Textbearbeiter und Interpreten, oder dem descriptiven Grammatiker? Wie sollten sie dem Sprachgeschichtsforscher den Thatsachenstoff aber vorführen, daß er ihn anordnen und geschichtlich zu durchdringen vermöchte, und vermöchten jene Hilfsarbeiter das nicht selbst ebenso gut, als genaue Kenner des Materials? Und ist es anders |2| mit Laut- und Formengeschichte und Etymologie? Kann der Lautwerth eines provenzal. Schriftzeichens festgestellt werden ohne Etymologie und Kenntnis des provenz. Patois, also ohne historische Verknüpfung der Erscheinungsformen des Wortes? Beobachtet nicht auch der Bearbeiter der altfranzös. Texte in den Hss. schon die Uebertragungen von Flexionsweisen auf andere Nominal- und Verbalclassen? Hat er sich nicht schon für das früher oder später einer Form zu entscheiden, wenn er die Sprache seines Autors aus der Ueberlieferung herststellt? Erkennt er nicht auch hier sprachgeschichtliche Reihen? Ich sehe auch hier die sprachgeschichtliche Forschung mit der philologischen in engster Verbindung und keine Trennung derselben. – Aber der grammatische Textbearbeiter hat es in Dichtungen auch mit prosodischen Dingen zu thun und dem Verse sprachgeschichtliche Thatsachen zu entnehmen. Er kennt also auch den Vers u. beobachtet Reim und Reimstellungen um Sprachgeschichtliches zu erkennen. Er müßte den Metriker belehren, der nur Metriker sein wollte. Und wie würde der Litteraturhistoriker Echtheit und Unechtheit eines Werkes, Abfassungszeit und Heimath desselben beweisen ohne sprachgeschichtliche Einsicht? Und löst nicht die sprachgeschichtliche Betrachtung in solchem Sinne einen Theil der litteraturgeschichtlichen Fragen? Ist denn der Schritt von der Kenntniß der sprachlichen Beschaffenheit und des Inhaltes des Textes zu umfassendrer Bearbeitung der litterargeschichtlichen Fragen weiter als von einem Sprachgebiet hinüber in ein solches, das nur Berührungen mit jenem hat, und sogar mit anderen Sprachgebieten, z. B. das Slavische mit Deutsch, Lat. u.s.w.? Liegt es dem romanischen Sprachforscher ferner rom. Litteraturhistoriker zu sein, als Slavist, Graecist u.s.w., wenn er doch seine Wissenschaft aus den einzelnen Datis heraus aufbauen muß, und diese ihm sich unter den verschiedensten Beziehungen darstellen? Nachdem, was der Einzelne beherrschen kann, wollen Sie ja auch nicht die Wissensgebiete abgrenzen; auch in dem großen Gebiet der Sprachwissenschaft kann ja jeder nur ein Stückchen Land bebauen. Es wird solche geben, die die Grenzen zweier Sprachgemeinschaften exploriren, solche, die sich im Inneren des einen Sprachgebietes niederlassen; jeder wird nur Bruchstücke wissen und Bruchstücke zu Tage fördern; das Ganze, auch der begrenztesten Wissenschaft umfaßt Keiner (der Botaniker nur  einen Theil der Flora einer Gegend, aber mit allen Bedingungen derselben; auf dem Grenzgebiet zwischen Flora u. Fauna wie innerhalb derselben arbeitet der Biolog; die Gebiete sind nur aus Zweckmäßigkeitsgründen geschieden und gliedern sich nach dem Stande der Wissenschaft jederzeit anders. Auch Gartner3 und das Rätoromanische läßt sich nicht wohl exemplificiren, den das Rätische hat keine philologisch bearbeitbaren Materialien aufzuweisen, ist also nur einartig (sprachgeschichtlich) zu behandeln. Anders |3| die rom. Cultursprachen, deren Sprachdenkmäler Grundlage oder Material für die verschiedenartigsten geschichtlichen Betrachtungsweisen und Forschungen darbieten, und ohne die eine Sprachgeschichte zwar bestehen kann, aber doch vor vielen Räthseln die Augen schließen müßte.

Aber die Auseinandersetzung geräth in die Breite und ich treffe vielleicht den Kern nicht Ihres Einwandes, was ich damit zu entschuldigen bitte, daß ich nicht weis, wie Sie den Begriff der Sprachwissenschaft fassen. Hier ziele ich nach mehrern Seiten und treffe wahrscheinlich nicht ins Schwarze. Den Grundgedanken, der diese u. meine Ausführungen im „Grundriß“ beherrscht, werden Sie aber erkennen: der Boden, auf dem ich mich bewege und von dem aus ich die Aufgaben der rom. Philologie aufstelle, ist der gegebene, der empirische romanische Sprachstoff, die unverstandene rom. Rede der Gegenwart, wie der Vergangenheit. Viele Arbeiter sind nöthig um sie nach ihrem Wesen und nach ihren Inhalten aufzuhellen; auch solche, die auf den „grenzenden Gebieten“ Bescheid wissen und die zu den Forschern zu rechnen sind, deren Schwerpunkt in der gleichen Richtung liegt. Sie erklären, die Empfindung der Heterogenität der Bestrebungen in der gemeinhin sogenannten rom. Philologie und logische Erwägungen hätten Sie von der Ansicht zurückgebracht, als wäre in ihr organisch Verbindbares vereinigt, und als könnte die romanische Sprachwissenschaft die Erneuerung [?] der rom. Philologie ertragen: Ich befürchte, daß dabei der Begriff Sprachwissenschaft zu eng gefaßt wird und daß sie nur einen Theil ihrer Aufgabe löst, daß sie präjudiciert, statt sich vom Stoffe leiten zu lassen. – Sie fragen, wie ich Philologie in einem Ausdruck umschreiben würde? Wenn ich vorschlagen würde „Spracherforschung“, „Redeforschung“, so würden Sie darin die Einheitlichkeit des Forschungsobjectes vermissen und schließen, Sprache, Litteraturforschung und philologische Thätigkeit fallen aus einander. Aber ich frage ebenfalls: Welchen bezeichnenden Ausdruck kennen Sie für Chemie, für Philosophie? Sie werden entweder eines der nichtssagenden deutschen Equivalente anführen oder eine Definition geben müssen, in welch‘ letztrer Lage ich mich zu sein bekenne.

Ich glaube nicht, Sie davon überzeugt zu haben, daß die rom. Sprachwissenschaft von der rom. Philologiegegenwärtig unzertrennlich und mit litteraturgeschichtlicher Forschung vereinbar sei. Ich würde mich jedoch freuen, wenn Sie sich nicht wie von einem Verstockten abwendeten, sondern sich bemühten mich zu belehren und zu überzeugen. |4| Beschreiten wir den Weg der Definitionen, so werden wir schnell zum Ziel gelangen.

Ich werde der erste sein, der die im „Grdß“ vertretene Anschauung verwirft, wenn die Consequenzen der Definitionen, über die wir uns verständigt, Philologie und Sprachwissenschaft als heterogene Forschungsgebiete zu betrachten nöthigen. Pauls Besprechung4 habe ich nicht gesehen. Die Junggrammatiker werden exculpiert, obgleich Osthoff die junggrammatische Trompete geblasen und künstlich eine Spaltung unter den Forschern durch das Lärmgeschrei über Lautgesetz und Analogie herbeigeführt hat.5 Hier hätte ich P[aul] weniger befangen gewünscht. Auch den Ton finde ich zu schroff. Wo ich sachlich mit ihm stimme und wie weit, wird Ihnen der „Griß“, ich denke in 14 Tagen, erklären: ich corrigire jetzt an dem Abschnitt über die „Methodik der Sprachwissenschaft“,6 an jenem Abschnitt des Grundrisses, den ich Ihnen antrug7 und den ich bedauere von Ihnen nicht haben erlangen zu können.

Mit herzlichsten Grüßen

Ihr ergebener

GGröber.


1 GrundrissI, 1888, 140f. (II. Abschnitt, „Aufgabe und Gliederung der romanischen Philologie“), hier 146f. (Abschnitt 11). Der Vergleich des vorliegenden Briefs mit dem gedruckten Text ist besonders aufschlußreich.

2 Schuchardt, Über die Lautgesetze, 1885: „Was nun die Sprache selbst anlangt, so meine ich, daß immer Sprache zu Sprache, mögen sie auch noch so weit auseinanderliegen, in wissenschaftlichem Sinn enger zusammengehören als Sprache und Literatur, seien es auch die desselben Volkes“ (37).

3 Vgl. Lfd.Nr. 042-04040.

4 Vgl. Lfd.Nr. 052-04050.

5 Hermann Osthoff / Karl Brugmann, Morphologische Untersuchungen auf dem Gebiete der indogermanischen Sprachen, Teil I, Leipzig 1878, Vorwort, IIIf., bes. XIIIf. (Analogie).

6 Gröber, „Methodik und Aufgaben der sprachwissenschaftlichen Forschung“, Grundriss I, 1888, 209-250.

7 Vgl. Lfd.Nr. 043-04041.

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