Gustav Gröber an Hugo Schuchardt (050-04048)
von Gustav Gröber
an Hugo Schuchardt
04. 01. 1886
Deutsch
Schlagwörter: Grundriss der romanischen Philologie Reflexion über Philologiebegriff Wissenschaftstheoretische Reflexion Romanische Philologie Sprachwissenschaft (Reflexion) Provenzalisch Graz Straßburg Gröber, Gustav (1888)
Zitiervorschlag: Gustav Gröber an Hugo Schuchardt (050-04048). Ruprechtsau, 04. 01. 1886. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2017). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.5891, abgerufen am 10. 12. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.5891.
Lieber Freund.
Ich schreibe Ihnen nach Graz, weil ich Sie wieder dort vermuthe. Erst heute, weil ich in Folge eines Todesfalls in meiner Familie von Straßburg in der Weihnachtszeit abwesend war. Vielleicht trägt, was ich auf Bogen 9-10 des „Rom. Grundrisses“ über Philologie und rom. Philologie vorzutragen hatte (in 8-14 Tagen wird der Reindruck in Ihren Händen sein),1 zu einer Verständigung bez. des Gebrauchs des Terminus Philologie, den ich in bestimmter Weise definirte, bei. Ich kann Ihnen daraufhin zugeben, daß eine Vorlesung über franz. Lautgeschichte und eine über Molière verschiedene Dinge sind. Sprachkenntniß und Sprachverständniß ist aber die Voraussetzung für beide Vorlesungen und diese kommen nur zu verschiedener Anwendung in ihnen. Ueber die provenzal. Lyriker wird nur der genaue (philologische) Kenner des Provenzalischen das zu sagen vermögen, was der Litteraturhistoriker oder Dichter von Molière. Eine chemische und eine physikalische Vorlesung sind verschieden; aber der Chemiker forschte mit physikalischen Anschauungen, wenn er die Spectralanalyse ersann; und in jedem einzelnen Falle, wo er mit Licht, Wärme, oder Elektricität in die Beschaffenheit chemischer Verbindungen einzudringen sucht, vereinigte er Einsichten, die aus Zweckmäßigkeitsgründen auseinandergehalten und als Object gesonderter Wissenschaften hingestellt werden. Auch zwischen Botanik und Zoologie ist keine Grenze, oder keine Grenze mehr. Dagegen, daß die Wissenschaften nach den Erkenntniszielen bestimmt werden, läßt sich nicht viel sagen. Aber je specieller das Erkenntnisziel, desto unselbständiger wird die Wissenschaft, desto mehr muß sie bei fremden Wissenschaften Anleihen machen, desto unsichrer werden ihre Resultate. Daher ist im Interesse wissenschaftlichen Fortschrittes die Abgrenzung möglichster großer Wissenschaftsgebiete. Weder die Sprachgeschichte noch die Litteraturgeschichte können anderen geschichtlichen Wissenschaften angeschlossen werden; sie können aber noch schwerer für sich bestehen. Die Sprachgeschichte hat freilich über sich die psychologische Wissenschaft der Sprachwissenschaft, aber diese ist ihr Product, nicht ihre Quelle. Doch Sie erfahren ja meine Ansicht in Kurzem durch den Druck.
Bestens grüssend
Ihr ergebenster
GGröber
1 Gröber „II. Abschnitt. Aufgabe und Gliederung der romanischen Philologie“, Grundriss 1, 1888, 140-154, bes. 140f.