Gustav Gröber an Hugo Schuchardt (082-04081)

von Gustav Gröber

an Hugo Schuchardt

Ruprechtsau

12. 04. 1893

language Deutsch

Schlagwörter: Diakritische Zeichen Druckwesen Vokalismus Phonetik Quantität Kritik Archiv für lateinische Lexikographie und Grammatiklanguage Lateinlanguage Vulgärlateinlanguage Bretonisch Meyer-Lübke, Wilhelm Pogatscher, Alois Loth, Joseph Franz, Wilhelm Förster, Wendelin Marx, Friedrich Körting, Gustav Neumann, Fritz Pogatscher, Alois (1886) Loth, Joseph (1884) Franz, Wilhelm (1883) Foerster, Wendelin (1878) Schuchardt, Hugo (1893)

Zitiervorschlag: Gustav Gröber an Hugo Schuchardt (082-04081). Ruprechtsau, 12. 04. 1893. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2017). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.5881, abgerufen am 28. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.5881.


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Ruprechtsau-Straßburg i/E, d. 12.4.93.

Lieber Freund!

Ihre Karte und Ihr Brief sind in meinen Händen. – Zunächst ein Wort über die einzelnen, im Brief zur Sprache gebrachten Fälle.

Bei m ę̆us mẹ̄a (Arch. Bd. III) werden Sie erkennen, daß die Druckerei  über ę̆ẹ̄ nicht verfügt; denn der Setzer hat die Zeichen aus mehreren Bestandteilen bilden müssen. Daher der Zwischenraum über dem Alinea meus u.s.w. Dasselbe werden Sie bei ẹ̄ sclur (mit ẹ und ¯ hergestellt) Arch. II bemerken; ebenso Bd IV bei prę̄ ndere (wo ę mit ¯ zusammengefügt sind), sowie bei sẹ̄pes, Bd. V. wo nun trotzdem der Druckerei von mir vorgeschrieben wurde zum Zusammensetzungen von Buchstaben aus Zeichen vorzunehmen, und Qualität und Quantität (jenes in rom., dieses in lat. Weise) angegeben wurde, lagen jedesmal besondere Anlässe vor. Bei p ę̄jur die in der Erläuterung zum Substrat nachgewiesene Stelle aus Meyer-Lübke, bei pr ę̄ndere die Ansicht, wonach prĕhendere : prēndere (mit langem ē) ergeben hätte; bei ẹ̄sclus die Schriftform aesculus (mit Diphthong); ich legte aber das Hauptgewicht auch hier auf die Qualität, wie die beigefügten Worte ergeben  („Die Qualität des e hat in der ital. Form eine ziemlich sichere Stütze“); ebenso wurde ẹ̄ gewählt bei fetus wegen foetus, und bei sẹ̄pes  wegen saepes, sēptmu, also Fälle wesentlich andreer [?] Art. Bei mę̆us mẹ̄a fällte ich selbst die Entscheidung, wegen des z. Z. vielfach angenommenen mĭa statt mĕa, das mir nicht begründet erschien (ĕu setzte ich als Diphthong; ēa als zweisilbige Vokalfolge). Wo ich keinen Grund für bestimmte Quantität bei einer bestimmten Qualität wußte, unterließ ich, das Qualitätszeichen |2| und Quantitätszeichen gleichzeitig anzuwenden und begnügte mich mit den Zeichen ˘ und  ¯, entsprechend der damaligen Auffassung: ō ist = ọ, ē ist = ẹ; ŏ ist = ǫ, ĕ ist = ę.

Ehe Pogatscher,1 wie nun Loth im Bret.,2 auf die Verschiedenheit der Entwicklung von ẹ̆ (aus i) und ẹ̄ und ē im Englischen hingewiesen hat, was geschah, nachdem meine Substrate bis S inclus. gedruckt waren, hatte das Gleiche für das Althochd. ein hiesiger Doctorand Franz (1883) S. 40. 43 unter meiner Mitwirkung gethan, wenn er auf Quantitätsverschiedenheit bei lat. ĭ und ē in alth. Lehnwörtern des lat. Wortschatzes aufmerksam machte.3 Aber solche Nachweise reichten nicht aus, um über Quantitätswechsel im Latein. sich auszusprechen. Daher begnügte ich mich auch, laut ausdrücklicher Angabe im Arch. I 222, die Qualität der Vocallaute nach der rom. Qualität anzuzeigen unter der Bemerkung, daß die Bestimmtheit der latein. Dichtersprache in Bezug auf die Quantität nicht gestatte, wo im Rom. lange Vocale für Kürzen des Lateins, oder rom. Diphthonge für lat. Kürzen eingetreten sind, Längung kurzer lat. Vocale (oder umgekehrt Kürzung von Längen) im Vglatein vorauszusetzen. Wenn ich „ecclĕsia“ statt ecclēsia schrieb, so ist auch hier ĕ als offenes e verstanden; in der Bemerkung zum Wort habe ich gesondert darauf hingewiesen, daß ĕ hingänglich kurz ist nach der Messung bei Venantius Fortunatus. Bei ǭvum habe ich mich über die Quantität nicht ausgesprochen, sondern auf die Behandlung die ō und ŭ vor v erfährt, hingewiesen, worüber ich unter flŏvius, Arch. II 425 zusammenhängend gesprochen und gesagt hatte: „Allgemein also stellt sich rom. (u. vulgärlat.) dem lat. ōv, ŭv : ǫv (= lat. ŏv) gegenüber“. Ich durfte voraussetzen, daß dabei meine Äußerung über die Bestimmheit der lat. Dichtersprache in Bezug auf die Quantität nicht unbeachtet blieb. Ich habe mich mithin nicht für ǫ̆vum ausgesprochen.

Sie sagten weiter unter 1) „Wenn die Quantitätszeichen ueber ihre eigentliche Function |3| noch die Qualität vorsehn sollten, so müßte das nicht nur im vornherein bemerkt, sondern auch angegeben werden, wie dann dieser ebenfalls vorkommende Quantitätswechsel voneinander zu unterscheiden sind“. Im vornhinein habe ich jedoch Arch. I 218 über die Verwendung von ˘ und ¯ im qualitativen Sinn mich geäußert: „Die Uebereinstimmung mehrerer rom. Sprachen, darunter das Ital., in Bezug auf Klang u. Entwicklungsform des lat. ē und ō, ĕ und ŏ gestattet aber auch ē und ō für geschlossene (= ital. u. ), ĕ und ŏ vor einfachen und mehrfachen Consonanten für offnes (= ital. ę und ǫ) e‑ und o-Laut zu erklären“. Und den zweiten Punkt angehend, habe ich in den oben besprochenen, von Ihnen im Briefe angemerkten Fällen, das sind die, wo ich über die Quantität außer über die Qualität zu sagen wüßte, zu den Doppelzeichen ˘/, ǀǀ ¯/, ǀǀ ˘/. ǀǀ ¯/. gegriffen, oder habe mich in der Erläuterung zum Worte über Quanität und Qualität geäußert. – Die rom. Qualitätsbezeichnung , und · allein habe ich nur bei glǫsa und pọliticus gebraucht, beides, nach meiner ausgesprochenen Auffassung, nicht Wörter des vulgärlatein. Sprachschatzes, sondern Wörter auf rom. Sprachstufe (jenes Lehnwort, dieses spätlat.), da ich daher in rom. Weise characterisierte, u. aus Gründen nicht ganz unterdrückte.

Ich habe mithin ˘ und ¯, wo sie allein vorkommen, eindeutig, wo verbunden mit den rom.. Zeichen , und · , im latein. Sinne verwandt, was Jedem verständlich erscheinen dürfte. Die Wahl von ˘ und ¯ im qualitativen Sinne war überdies durch zwei Vorgänger, die sich an die Latinisten gewandt hatten, Foerster4 und Marx,5 an die Hand gegeben. Nach meinen ausdrücklichen Vorbemerkungen zu den Substr. konnte das Mißverständnis nicht aufkommen, daß ich das einfache ˘ und ¯ =Zeichen als Quantitätszeichen gebrauchte. Sie selbst, der Sie mir die Freude bereiteten sich bei der Zusendung der einzelnen Theile der Substrate gelegentlich zu äußern haben an dieser Bezeichnungsweise niemals Anstoß genommen.

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Ich gebe natürlich zu, daß es wünschenswerth ist, über lat. Quantitätswechsel etwas Genaues zu erfahren; aber, habe ich nicht, soweit es z. Z. möglich war, verzeichnet, was man erkannt hatte? Wer weiß heute mehr über Quantitätswechsel?6

Wenn schließlich meine ˘ und ¯ von Körting und Andre[n] als Quantitätszeichen aufgefaßt wurden, trage ich die wenigste Schuld, da ich mich über den Sinn, den ich damit verbunden, erklärt habe? Ich darf doch verlangen, daß, wenn man mir nachschreibt, es in meinem Sinne geschieht. Ich würde nichts Kränkendes an Ihrer Äußerung finden, wenn sie dahin gegangen wäre, daß durch irrige Auffassung meiner „˘ und ¯ “ Zeichen Andre bei Andren die Vorstellung erweckt hätten, daß rom. ], und · immer ˘ und lang voraussetzt, und daß man die Bezeichnung besser ändre; kränken mußte mich aber der Vorwurf das Wörterbuch den allzu bequemen Weg [gehe ?], weil der Schein entsteht, als ob Jemand nach mir die Frage irgendwie so der Lösung näher gebracht hätte, daß zur Zeit der Veröffentlichung der Substrate, auch ich ihre Lösung wesentlich hätte fördern müssen. Kränkender würde ich jedoch auch dann jene Äußerung nicht gefunden haben,7 stünden wir uns fremd gegenüber; und das Bedürfnis, daß der Sachverhalt bekannt gegeben würde, würde ich nicht empfinden, wäre die Äußerung nicht von jemand gethan, dessen Steuerungs- und Urtheilsvermögen bekannt und dem in Fragen, wie der in Rede stehenden, eine unbedingte Autorität beiwohnt. Gerade deshalb liegt mir das Verlangen nahe, daß meine Stellung zu dem von mir angesprochenen Satz Ihrer Rezension des Loth’schen Buches bestimmt wird, entweder durch Sie selbst, indem Sie in einer Nachschrift zu derselben bei Neumann gemäß dem Vorstehenden sich äußern, oder mir überlassen, dasselbe in Wöfflins Archiv oder in meiner Ztsch. zu thun.

Glauben Sie nach wie vor an die Freundschaft

Ihres ergebenen

GGröber


1 Aloys Pogatscher, Zur Lautlehre der griechischen, lateinischen und romanischen Lehnwörter im Altenglischen, Straßburg 1886-1888 (2 Teile).

2 Joseph Loth, Vocabulaire vieux-breton, avec commentaire, contenant toutes les gloses en vieux-breton, gallois, cornique, armoricain, connues, précédé d'une introduction sur la phonétique du vieux-breton et sur l'âge et la provenance des gloses, Paris 1884. Vgl. dazu Schuchardts Rez. Lfd.Nr. 081-04080.

3 Wilhelm Franz, Die lateinisch-romanischen Elemente im Althochdeutschen, Diss. Strassburg 1883.

4 Wendelin Foerster, „Bestimmung der lateinischen Quantität aus dem Romanischen“, Rheinisches Museum für Philologie, N.F. 33, 1878, 291-299; Nachtrag ebd., 639f.

5 Möglicherweise eine Schrift des Bonner Altphilologen Friedrich Marx (1859-1941).

6 Eigenartigerweise finden sich in Grundriss I nur sporadische Hinweise zum Thema Vokalqualität versus Vokalquantität, und nicht aus der Feder Gröbers.

7 Hier noch einmal die Gröber so kränkende Aussage Schuchardts in der Loth-Rezension, Sp. 103: „Indessen wandelten Gröber und Körting auf dem allzu breiten Wege fort, und so sind aus den ,Vulgärlateinischen Substraten‘ und besonders dem ,Lateinisch-romanischen Wörterbuch‘ nach allen Seiten hin unsichere, unwahrscheinliche, unmögliche Quantitäten […] ausgeflogen und beginnen nun auch bei den Nichtromanisten sich einzunisten und zu mehren“.  Vgl. Lfd.Nr. 083-04082 Gröbers „Richtigstellung“.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 04081)