Gustav Gröber an Hugo Schuchardt (080-04079)
von Gustav Gröber
an Hugo Schuchardt
13. 06. 1892
Deutsch
Schlagwörter: Zeitschrift für romanische Philologie Universität Zürich Universität Breslau Universität Jena Portugiesischbasierte Kreolsprache (Guinea Bissau) Mussafia, Adolf Meyer-Lübke, Wilhelm Lotheissen, Ferdinand Straßburg Schuchardt, Hugo (1892) Schuchardt, Hugo (1891)
Zitiervorschlag: Gustav Gröber an Hugo Schuchardt (080-04079). Ruprechtsau, 13. 06. 1892. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2017). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.5879, abgerufen am 07. 10. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.5879.
Ruprechtsau-Straßburg i/E 13/6 92.
Lieber Freund.
Ihre Oriflamme Miscelle bringe ich noch in XVI ¾ unter.1
Wenn ich mittheilte, daß das Verhältnis zwischen Mussafia und W. Meyer-L. mir kein befriedigendes zu sein schien,2 so war ich weit entfernt die Schuld daran Mussafia beizumessen. Ich entnahm nur gelegentlichen Zuschriften M-L’s, die seine Mss. für die Ztsch. zu begleiten pflegen, daß er meint, Ursache zur Unzufriedenheit mit dem zu haben, der ihn zu seinem Collegen gemacht hat. Aber so weit ich Mussafia kenne (wir sind 2mal persönlich einander begegnet), ist es mir allerdings schwer zu glauben, daß MussafiaM.-L. Ursache zu solcher Unzufriedenheit gegeben haben sollte; doch ist dies augenscheinlich die Auffassung M.-L.s. Ob die Uebernahme des Lehrauftrags Lotheis[s]ens3 durch ihn, dessen Neigungen doch nach ganz andrer Richtung gehen, zu Schwierigkeiten geführt hat, ob er gemeint hat, daß für ihn die Zeit zum Ordinariat gekommen gewesen sei,4 nachdem manche weniger beträchtliche Kräfte dazu vorgeschoben worden waren, ob mitgewirkt hat, daß er bei den Nennungen in Deutschland fast immer unberücksichtigt geblieben ist, ob endlich seine materiellen Verhältnise der Art waren, daß er ein schnelles Aufrücken erhoffen mußte, – das ist mir alles unbekannt; M-L hat sich nie darüber ausgesprochen. Keineswegs aber möchte ich glauben, daß der Grund für Meyer-L’s Stellung zu Mussafia mit einer zu mißbilligenden Chraktereigenschaft M-L’s zusammenhänge; an Ehrgeiz fehlt es ihm freilich nicht. Vielleicht daß dieser von Mussafia nicht so schnell befriedigt werden konnte, als M-L für wünschenswerth und möglich hielt; M.-L. wird aber in dieser Be- |2| ziehung die Einsicht fehlen; wenn ihm die Augen darüber geöffnet werden könnten, daß Muss. wirklich das für M-L gethan hat, was sich erwarten und verantworten ließ, so würde der Schein der Undankbarkeit vermuthlich von M.-L. genommen. Offenbar verstehen beide einander nicht recht; die Schuld liegt gewiß an dem Jüngeren; aber ich meine, an seiner Einsicht, nicht an seinem Charakter.
In Ihrer Unterhaltung mit ihm haben Sie, wie Sie sagen, den Menschen, nicht den Gelehrten in ihm, kennenlernen wollen, und ihm deshalb nicht den Mund zu öffnen gesucht, dadurch, daß Sie ihn auf irgend ein Suffix zu sprechen brachten. Durch diese Ihre Mittheilung wird mir die Verschlossenheit, die er Ihnen gezeigt, recht wohl verständlich. Im Grund ist er doch die wandelnde Linguistik; alles andere macht ihm keinen Eindruck, der ihn zu reagieren veranlassen könnte. Er hat zwar sein persönliches Innenleben, aber das scheint ihm nicht mittheilenswert, oder berechtigt sich herauszustellen. Ich habe eine ganze Reihe ähnlicher Schwierigkeiten kennen gelernt, als ich in Zürich war,5 und gerade unter den Gelehrten. M.-L. hat deshalb ein geringes Verständnis für fremde Individualität und versteht sich auf Würdigung subjectiver Art gar nicht. Und selbst bei Erörterung linguistischer Dinge habe ich ihn stets karg und zurückhaltend gefunden: er ist absolut nicht sprechfreudig, durchaus einsilbig, auch bei bester Stimmung. Ich sah ihn 3mal bei mir in Straßburg in verschiedenen Lebenslagen, und habe dieselbe Beobachtung immer wieder gemacht – dazu aber auch die seiner unbedingten Charakterlauterkeit gewonnen. Von stillem Hochmuth keine Rede; Selbstsicherheit, die sich hie und da einmal in einem seiner Briefe bemerkbar machte, diente immer nur dazu, den Widerspruch herauszufordern und die Discussion herbeizuführen. Fast möchte ich sagen, Sie verlangen |3| von dem einfachen Menschen zu viel, oder erwarten von ihm zu viel, nachdem seine litterarischen Arbeiten Ihre Aufmerksamkeit auf ihn gelenkt haben und viel versprachen.
Daß er Ihnen auf die eingehende Recension6 nichts erwidert hat, ist am meisten befremdlich und wird vielleicht aus seiner Wortkargheit nicht genügend erklärt. Aber ob er etwas zu Ihrer Beurtheilung der Behandlungsweise der rom. Lautgeschichte zu sagen hätte? Er hatte vielleicht nur zuzustimmen u. fühlte sich durch Ihre Beurtheilung selbst getroffen? Wollten Sie es der Mühe werth halten M-L’s Art genauer kennen zu lernen und meine Auffassung von derselben nicht von vornherein für irrig halten, so würde mich der richtige Weg, auf dem zum Ziele zu kommen ist, der scheinen, ihm unbefangen und mit Vertrauen entgegenzutreten: auf diesen Ton, habe ich gefunden, geht er am leichtesten ein; sein Lakonismus behauptet sich ihm gegenüber am wenigsten.
Doch genug; ich würde mich freuen, wenn Sie die Lust nicht verlören, in ihn weiter einzudringen. Wenn Sie auch nicht viel Anziehendem in ihm begegnen werden, so, glaube ich doch bestimmt, einem Mann von durchaus achtungswürdigem Charakter werden Sie in ihm finden; ich halte es für unmöglich, daß ich in dieser Beziehung mich über ihn jahrelang täuschen könnte.
Mit herzlichen Grüßen
Ihr
GGröber
1 Schuchardt, „Fr. oriflamme > labari flamma“, ZrP XVI, 1892, 522.
2 Hier klafft offenbar eine Lücke in der Korrespondenz. – Im folgenden versucht Gröber, bei Schuchardt um Verständnis für Wilhelm Meyer-Lübke zu werben. Er gibt zwar zu, dass er einen verschlossenen Charakter habe, aber er sei doch eine lautere Persönlichkeit, weshalb es sich lohne, ihn näher kennenzulernen. Im HSA sind insgesamt 70 Briefe Meyer-Lübkes an Schuchardt aus den Jahren 1884-1925 erhalten, die weiteren Aufschluss geben könnten.
3 Ferdinand Lotheissen (1833-1887), der aus Darmstadt stammte, hatte sich 1871 in Wien für neuere franz. Literaturgeschichte habilitiert und wurde 1872 gemeinsam mit Mussafia, obwohl nur Privatdozent (ab 1881 ao. Prof.), Vorstand des Wiener Romanischen Seminars. Meyer-Lübke „erbte“ demnach nach Lotheissens frühem Tod die franz. Literaturwissenschaft.
4 Dieses erhielt Meyer-Lübke noch im gleichen Jahr (1892)!
5 Gröber war auf den Rat Adolf Toblers 1871 nach Zürich gegangen, hatte sich dort habilitiert und war 1872 zum Extraordinarius ernannt worden; 1873 nahm er jedoch bereits einen Ruf nach Breslau an. Vielleicht sympathisierte er deshalb mit Meyer-Lübke, der sich 1884, gerade 23 Jahre alt, ebenfalls in Zurich habilitiert hatte und zwei Jahre später nach Jena berufen wurde.
6 Schuchardt, „[Rez. von:] Philologische Abhandlungen Heinrich Schweizer-Sidler zur Feier des fünfzigjährigen Jubiläums seiner Docententhätigkeit an der Zürcher Hochschule gewidmet von der I. Section der philosophischen Facultät der Hochschule Zürich“, LB f. germ. u. rom. Phil., 12, 1891, 411–414. In Sp. 412 heißt es: „M.-L. zeigt auch in dieser Untersuchung die glänzenden Eigenschaften die wir an ihm kennen, daneben aber auch hie und da jene Ueberhastung die den Werth mancher früheren Arbeiten von ihm nicht wenig beeinträchtigt; ich meine Ueberhastung nicht bloss was die Schlussfolgerungen auch was die Grundlegungen angeht“. Darauf ist allerdings nur schwer angemessen zu antworten.