Gustav Gröber an Hugo Schuchardt (019-04018)
von Gustav Gröber
an Hugo Schuchardt
25. 06. 1877
Deutsch
Schlagwörter: Rezension Diezstiftung Revue des Langues Romanes Gründung von Zeitschriften Zeitschrift für romanische Philologie Revue critique d'histoire et de littérature Westslawische Sprachen Sievers, Eduard Suchier, Hermann Stengel, Edmund Förster, Wendelin Mall, Eduard Bartsch, Karl Friedrich Paris, Gaston Diez, Friedrich Schuchardt, Hugo (1877) Sievers, Eduard (1876) Storost, Jürgen (1992) Boehmer, Eduard (1877) Tobler, Adolf (1877) Lücking, Gustav (1877)
Zitiervorschlag: Gustav Gröber an Hugo Schuchardt (019-04018). Breslau, 25. 06. 1877. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2017). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.5833, abgerufen am 01. 12. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.5833.
Breslau, 25. Juni 1877.
Verehrtester Herr College.
Ich habe von Ihnen noch einen Beitrag für das 2/3 Heft (das Ende Juli ausgegeben wird, c. 16 Bogen stark) der Zeitschrift hier, Ihre Anzeige der Columna, Bd.VII,1 und so trifft es mich nicht gar zu empfindlich, daß Sie den Sommer der Rast und Erholung zu widmen sich angeschickt haben. Ich hoffe, eine neue Reaction wird mir dann recht viel von dem in Aussicht Stehenden zuführen und selbst Sievers Buch2 noch in der Ztsch. von Ihnen besprechen lassen. Ob ich Ihnen Jungs Buch3 schicken darf, – schrieben Sie nicht; Sie haben es gewiß schon gesehn, – aber ich will gern auf spätre Entscheidung warten, wenn Sie gegenwärtig über sich in nichts disponiren mögen. Halten Sie die Zusendung einer Correctur von Ihrer Anzeige der Columna nöthig, so sende ich Sie Ihnen, und würde Sie nur um Angabe Ihrer Adresse bitten, falls sich dieselbe mit dem Beginn der Ferien verändert.
Soweit4 ich die Angelegenheit der Diezstiftung überblicke, liegt dieselbe sehr darnieder. Es ist kein gutes Zeichen, wenn die 2.te Berliner Quittung (nach zweimonatlicher Sammlung) den 4ten Theil der ersten nur beträgt (bei mir lagen allerdings ausserdem 160 Mark bereit). Wie mag es bei den übrigen Comités aussehn? Haben Sie erfreuliche Beitragssummen schon erhalten? Und warum fehlen auf der Berliner Liste noch dieselben Collegen, die auf der ersten zu vermissen waren, selbst Unterzeichner des Berliner Aufrufs, wie zB Suchier? Ausserdem Stengel, Foerster, Mall, Keller, Holland, Bartsch5 etc. Diese alle, etwa mit Ausnahme von Stengel |2| müßte man unter der Berliner Fahne zu sehen erwarten, – und keiner von ihnen in der 2ten Liste! Und das ist doch lauter grünes Holz!
Von den öffentlichen Aeußerungen über die Diezstiftung kenne ich noch die in der Academie, die in der Revue des Lang. Rom.6 und in der Revue critique;7 ein Circular Ascolis ist mir nicht bekannt geworden.8 Aus Ihren Bemerkungen darüber entnehme ich, dass es im Sinne des Berliner Aufrufs gehalten ist, – also eine Spaltung somit auch in Italien, wie in Frankreich: denn die Revue critique mit G. Paris macht Miene das Berliner Comité zu unterstützen, während die Revue a Montpellier9 für das Wiener Comité eintritt, – mit einer freilich überraschenden Motivirung, aus der ich folgern würde, dass Leute, die ein Interesse und eine Verpflichtung haben, den Namen Diez erhöhen zu helfen, wenn sie sich nicht zu einer freiren Betrachtungsweise erheben können als die ist, die mit der Pariser Weltausstellung gegen Berlin argumentirt, besser ganz aus dem Spiele bleiben. Solche Engherzigkeit ist betrübend, sie übertrifft bei weitem die der Berliner, die sich in der Ablehnung einer Aendrung des ursprünglichen Planes zeigte.
Der Gedanke die Angelegenheit in der Zeitschrift zu besprechen, erscheint mir sehr gut, und wenn Sie geneigt sind mir noch einige Unterlagen zu schaffen, so würde ich mich jedenfalls entschließen die Discussion im 2/3 Hefte zu eröffnen. Nach einer Vereinigung sehnen sich vielleicht alle Parteien und keine wird sich der Ueberzeugung entziehen, dass bei der jetzigen Zersplitterung ein klägliches Resultat auf allen Seiten sich ergeben muss: es ist daher jetzt vielleicht die rechte Zeit darauf hinzuwirken, dass d[urc]h Discussion am nämlichen Orte Klarheit in die Situation gebracht wird. Können Sie mir 1 Ex. des Ascolischen Circulars verschaffen? Ferner vielleicht in Erfahrung bringen, wie hoch sich Monacis Sammlungen belaufen, und was das Wiener Comité aufzuweisen hat? |3| Solcher Unterlagen könnte ich nicht wohl entrathen, wenn ich mich über das was die Lage der Dinge zu thun erheischt, aeußern wollte. Vielleicht ist es Ihnen ohne sonderliche Mühe möglich, mir Kenntniß der bezeichneten Richtung zu verschaffen. –
Eine gehaltvolle Abhandlung zur Eröffnung der Zeitschrift ist mir trotz meiner Bemühungen nicht zugekommen und unter dem, was ich hatte, war Toblers Artikel trotz seines aphoristischen Characters, noch das Beste.10 Die Zeit war zu kurz, um die Gewinnung eines Musterartikels möglich erscheinen zu lassen, (nur die Frist von ¼ Jahr war gegeben), ich mußte froh sein T.s Beitrag noch zu erhalten. Zwar lag es eigentlich mir ob, die Zeitschr. mit etwas Achtungswerthem einzuleiten: aber die massenhafte Correspondenz, die die Begründung der Zeitsch. im letzten Viertel des Jahrs 1876 mir auferlegte, nahm alle meine Arbeitszeit in Anspruch, und so konnte eine Untersuchung über die Entstehung und Authenticität der Biographien der Troubadours, ein Beitrag zur Chronologie der Lautgeschichte der Romanischen Sprachen oder spec. des Provzal. und Franz. und andres, was ich einigermaßen vorbereitet hatte, nicht zur Ausführung gelangen. Leider sind so wenige unter den Fachgenossen, die sich zu einer Abhandlung aufschwingen: Editionen, Recensionen, Miscellen, das sind die begünstigten Genre, und etwas Zusammenfassendes wird von den Deutschen fast noch seltner geboten als von Ausländern. Also, der Gedanke, mit einer einen [sic] wichtigen Gegenstand sich beschäftigenden Abhandlung die Zeitschrift einzuleiten, lag mir keineswegs fern, – aber ich vermochte ihn nicht zur Ausführung zu bringen. Hoffentlich leidet darunter die Zeitschrift nicht Schaden. Wenn nur alle gut klingenden Namen in ihr anzutreffen sind, so wird man mit ihr zufrieden sein und in dem Gebotnen erkennen, daß die Zeit noch nichts Bessres zu leisten im Stande ist. Hoffentlich wird es damit bald besser. – Haben Sie Lückings Buch11 gesehen? |4| Und wie hat es Ihnen gefallen? Mancher unter den romanischen Philologen, der die Tragweite linguistischer Sätze nicht zu ermessen vermag, deren es nach meiner Meinung nicht wenige in Deutschland giebt, wird dazu den Kopf schütteln, und doch ist lange nichts so Anregendes und so Gehaltvolles über französische Sprachgeschichte vorgelegt worden. Aber ich glaube nicht einmal, daß es dazu beitragen wird zu lehren, (was sovielen unbekannt ist), daß man von Lautgesetzen nur in lautphysiologischem Sinne zu sprechen habe, und daß man mit Sammlungen von Schreibformen u. dgl. den Problemen frz. Sprachgeschichte nicht nahetritt.
Ich hätte Ihnen gern 1 Ex. von meiner als letztes Heft von Böhmers Studien II. Bd. erschienenen Arbeit über die Liedersammlungen der Troub.12 geschickt; ich war aber so vielfältig in Folge mir zugesandter Arbeiten andern Collegen verschuldet, daß die ganze Anzahl Freiexemplare, über die ich verfügen konnte, schnell verbraucht war. Sollte ich noch 1 Ex. erhalten können, und würden Sie ein solches gern annehmen, so würde ich mir eine Freude daraus machen es Ihnen zuzustellen.
Mit den ergebensten Grüßen und der Bitte die schlechte Schrift entschuldigen zu wollen
Ihr
GGröber
1 Schuchardt, [Rez. von:] „Columna luĭ Traĭan. Revista mensuala pentru istoriă, linguistica si psicologia poporana. Director: B. P. Hasdeu. Anul VII noua seria tom I.“, ZrP 1, 1877, 481–484. [Archiv-/Breviernummer: 094].
2 Vermutlich Eduard Sievers, Grundzüge der Lautphysiologie zur Einführung in das Studium der indogermanischen Sprachen, Leipzig 1876 (kein Nachweis einer Besprechung Schuchardts).
4 „Soweit ich ...“ bis „...Richtung zu verschaffen.“ Vgl. Storost, Hugo Schuchardt und die Gründungsphase, 1992, 80-81.
5 Hermann Suchier, Edmund Stengel, Wendelin Foerster, Eduard Mall, Adelbert von Keller, Wilhelm Holland, Karl Friedrich Bartsch – alle Romanistikordinarien an verschiedenen deutschen Universitäten.
6 Revue des Langues Romanes 10, 1877, 223f. (Text bei Storost, 1992, Hugo Schuchardt und die Gründungsphase, 80 Anm. 138).
7 In der Revue critique d’histoire et de littérature 1877, 1-6, wurde kein Hinweis gefunden. Dafür ein Nachweis in Romanische Studien 9, 1877, 673-676 (Eduard Boehmer).
10 Tobler, „Vermischte Beiträge zur Grammatik des Französischen“, ZrP 1, 1877, 1-25 (diesem Eröffnungsaufsatz gehen vier programmatische Seiten Gröbers voraus!).
11 Gustav Lücking, Die ältesten französischen Mundarten, Berlin 1877. – Zu Lücking (1839-ca. 1914), vgl. Romanistenlexikon (online).
12 Straßburg 1877, 670 S.