Hugo Schuchardt an Friedrich Kluge (57-HSFK_13)

von Hugo Schuchardt

an Friedrich Kluge

Graz

12. 06. 1918

language Deutsch

Schlagwörter: Erster Weltkrieg Spinnen und Weben Sprachen in Bengalen/Indien Gesundheit Literaturblatt für germanische und romanische Philologie Baskologie Reflexion über Forschung Sprachkontakt (allgemein) Entlehnung Allgemeiner Deutscher Sprachverein Deutsche Worte Sprachwissenschaft (Reflexion) Magyar Nyelvör Königlich-Preußische Akademie der Wissenschaften (Berlin) Brugmann, Karl Friedrich Christian Schuchardt, Hugo (1918) Schuchardt, Hugo (1918) Schuchardt, Hugo (1919) Schuchardt, Hugo (1914) Schulz, Hans (1913)

Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Friedrich Kluge (57-HSFK_13). Graz, 12. 06. 1918. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2017). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.5658, abgerufen am 28. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.5658.


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Graz 12.6.18.1

Verehrter Kollege!

Ich danke Ihnen vielmals für die freundliche Nachfrage nach meiner Gesundheit und beantworte sie kurzerhand damit daß ich mit ihr in mehrfacher Beziehung sehr unzufrieden bin, daß das aber im 77ten Lebensjahr kein Wunder, vielmehr die Regel ist. Gehen wir also hierüber rasch hinweg.

Sie werden zwar das Literaturblatt schon längst bekommen haben: doch sende ich Ihnen daraus meine Anzeige von Meyer-Lübkes Romanische Namensstudien von der [ich] erst gestern die Sonderabzüge erhalten habe.2 Was Sie darin allenfalls interessieren könnte, |2| habe ich mit einem blauen Strich gekennzeichnet. Bask. keipe bedeutet „Vorhalle“, eig. „unter dem Vordach“; welche Form müßte hei, hegi im Gotischen gehabt haben, wenn es unserem Ecke entspräche?

Eine auf meine baskologischen Aufzeichnungen von 1887 gegründete baskologische Arbeit habe ich unterbrochen, um die – für mich jetzt doppelt mühseligen Korrekturen einer Akademieabhandlung über die romanischen Lehnwörter im Berberischen zu lesen (ich meine vorzüglich die altromanischen d.h. die lateinischen).3 Ein eindeutig sicheres d.h. germano-romanisches Wort findet sich darunter: bergen – Schober, Hütte usw.

Die Fremdwörterfrage hat mich von jeher lebhaft beschäftigt;4|3| jetzt, da die Berliner Akademie und der deutsche Sprachverein aneinander geprallt sind, in besonderem Maße. Ich finde daß man auf beiden Seiten sich starke Blößen gibt.5 Aber den lateinischen Spruch: in medio tuttissimus ibis ist auch nicht beherzigenswert; der Ibis (um den alten Kalauer fortzusetzen) würde von beiden Seiten sehr übel behandelt werden. Ich stehe im Ganzen auf dem Standpunkt der Sprachreiniger; um so mehr verstimmen mich die Übertreibungen und Mißgriffe der Partei. Den Ausdruck völkisch habe ich wohl viel tausende Mal gelesen, und ich habe mich wohl daran gewöhnen können; ich finde ihn scheußlich.6 Man hat ihn – ich denke dabei ausdrücklich an den Sprachverein – trotz seiner schlechten Bildung und seinen un- |4| sauberen Verbindungen (mit hündisch, wölfisch usw.), also mit schlechtem Gewissen gegenüber dem natürlichen und in den skandinavischen Sprachen üblichen volklich begünstigt. Ich fragte einmal (brieflich) Ed. Engel7 , weshalb das sei; er erwiderte volklich könnt leicht mit folglich verwechselt werden! Ich glaube ich habe den Erfinder von völkisch noch gekannt: Es war wohl der Hesse Pfister,8 der sich als Leutnant Anfang der 60er Jahre in Gotha befand. – Es müssen auch für neue Fremdwörter gewisse Vergünstigungen bestehen. So gut wie ich Odol sage (was ja eine ganz verrückte Bildung ist), muß ich auch Auto sagen dürfen, besonders wenn die Gefahr des Überfahrenwerdens droht. Ich habe Straßenbiegungen erlebt wo allen polizeilichen Vorschriften zuwider, ein Auto nach dem andern vorbeisaust. Da rufe man doch warnend: „Kraftwagen!“ – Mir selbst machen aber die Fachausdrücke der Sprachwissenschaft am meisten |5| zu schaffen, in fast hoffnungsloser Weise. Vor langen Jahren versuchte ich einmal eine Seite Sprachwissenschaft in reinem Deutsch zu schreiben; beim Durchlesen verstand ich es dann selbst kaum. Die Frage, ob man denn einfach übersetzen darf, ist schwer zu erledigen. Man könnte sich auf den Erfolg berufen: aber wenn z.B. Fall für Kasus ganz durchgedrungen ist, was ist damit für das Sachverständnis gewonnen? Was denkt sich wohl ein Schüler bei Mittelwort usw.? So viel ich weiß, ist im Holländischen die Germanisierung solcher Ausdrücke am ausgedehntesten vorgenommen worden; aber es haben sich holländische Gelehrten gegen das System oder vielmehr gegen seine Übertreibung ausgesprochen. Anderseits, gehen mir die Neuschöpfungen wie Basen, Formantier auf die Nerven; Brugmann9 treibt es wirklich ein wenig stark damit. In einer Abhandlung die er mir kürzlich schickte, finde ich außen deiktisch und rede deiktisch gegenüber gestellt;10 warum nicht für das zweite wenigstens innen deiktisch? Da ich gerade in einer madjarischen Zeitschrift (dem |6|Magyar Nyelvör)11 einen guten Anknüpfungspunkt finde, so lagere ich vielleicht da einmal meine Schmerzen ab.

Bei dieser Gelegenheit erkundige ich mich, ob denn von dem trefflichen Fremdwörterbuch von H. Schulz, das mir Freude macht, nicht bald der zweite Band erscheinen wird?12

Endlich: ist es möglich das deutsche Matte Wiese auf das viel …* deutige romanische matta zurückzuführen (natürlich würde es eine jüngere Entlehnung sein)? Ich finde im Berberischen die Fortsetzungen von matta, mattone im Sinne von Sumpf, Wiese, Gartenbeet u.ä.

Mit herzlichen Wünschen und Grüßen

Ihr ergebenster

H Schuchardt

*) In der N.Z.Z. finde ich Matte in einem eigentümlichen Gebrauch; ich kann aber dessenthalb jetzt das Schweizer Idiotikon13 nicht einsehen.


1 Original Freiburg, UB NL 25/260, Nr. 13.

2 Schuchardt, Rez. von „W. Meyer-Lübke, Romanische Namenstudien. II. Heft. Weitere Beiträge zur Kenntnis der altportugiesischen Namen“, Literaturblatt für germanische und romanische Philologie 39, 1918, 194–199.

3 Schuchardt, Die romanischen Lehnwörter im Berberischen, Wien 1918.

4 Vgl. ausführlich Schuchardt, Rez. von „Leo Spitzer, Fremdwörterhatz und Fremdvölkerhass. Eine Streitschrift gegen die Sprachreinigung“, Literaturblatt für germanische und romanische Philologie 40, 1918, 5–20.

5 Vgl. Andreas Schumann, „ Völkische Tendenzen in Germanistik und Philologie “, in: Uwe Puschner, Walter Schmitz und Justus H. Ulbricht (Hrsg.), Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1871–1918. München u. a. 1996, 859–873 (dort auch weitere Beiträge zum Thema „völkisch“).

6 Schuchardt, [Anmerkung zu:] „An Theodor Gartner zum 70. Geburtstag (4. November 1913). Deutsche Schmerzen‘ S. 13: über ,volklich‘, nicht ,völkisch‘ u. a.“, Zeitschrift des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins 29, 1914, 11.

7 Eduard Engel (1851-1939), Parlamentsstenograph und Sprachforscher in Berlin.

8 Hermann von Pfister-Schweighusen (1836-1916), Militärhistoriker, Dozent an der TH Darmstadt, Alldeutscher.

9 Karl Brugmann (1849-1919), Indogermanist und Sprachwissenschaftler, Professor in Freiburg i. Br. und vor allem in Leipzig.

10 Brugmann, Demonstrativpronomina der indogermanischen Sprachen, Leipzig 1904.

11 Nicht nachgewiesen.

12 Hans Schulz, Deutsches Fremdwörterbuch, Strassburg 1913f. (zunächst von Otto Basler fortgeführt).

13 Schweizer Idiotikon II 4 , 548 u. 541.

Faksimiles: Die Publikation der vorliegenden Materialien im „Hugo Schuchardt Archiv” erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Universitäts-Bibliothek Freiburg i.Br. (NL 25/260). (Sig. HSFK_13)