Friedrich Kluge an Hugo Schuchardt (33-05609)

von Friedrich Kluge

an Hugo Schuchardt

Freiburg im Breisgau

18. 10. 1911

language Deutsch

Schlagwörter: 70. Geburtstag Dialekte Reflexion über Forschung Gesundheit Dankschreiben Glückwünschelanguage Küchenböhmisch Meringer, Rudolf Schrader, Otto Schuchardt, Hugo (1911) Schuchardt, Hugo (1866) Schuchardt, Hugo (1908)

Zitiervorschlag: Friedrich Kluge an Hugo Schuchardt (33-05609). Freiburg im Breisgau, 18. 10. 1911. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2017). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.5634, abgerufen am 30. 09. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.5634.


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Freiburg 18. Okt. 1911

Verehrter Kollege!

Über Meringers Aufsatz habe ich von jüngeren Besuchern meiner Klause nur erst kurz berichten hören.1 Heute packt es mich mit Wehmut, wenn ich sehe, wie Sie nun kurz vor Ihrem 70. Geburtstag so schweren Anlaß zu trüber Stimmung haben. Eine fast 50jährige Tätigkeit im Dienste der Wissenschaft hätte Ihnen natürlich das Anrecht sichern müssen, Ihren dem Dienst der Wissenschaft geweihten Lebensabend sonnig und heiter zu belassen, soweit der Gesundheitszustand es gestattet. |2| Als ich im Jahre 74 die Universität bezog, notierte mein Gymnasialdirektor Ihr Vulgärlatein2 als das wichtigste Werk, mit dem ich mich zu beschäftigen hätte. Was haben Sie seitdem nicht alles fertig gebracht! Der Dienst der Wissenschaft war Ihnen immer heilig; aber das kann eben nicht jeder verstehen! Ein neues Geschlecht braucht Ellenbogen und Geklapper, wo ein älteres Geschlecht sachlich ist. Die Aufgaben der Wissenschaft verschieben sich langsam u. allmählich u. ich bin fest davon überzeugt, daß Sie nicht erst von Meringer zu lernen hatten, daß die Wortforschung einen Kontakt mit der Sachforschung brauche. Schrader (früher in Jena, jetzt in Breslau)3 hat lange vor Meringer die gleiche Forderung erhoben, und |3| sein Reallexikon ist seither nicht von Meringer abhängig. Das einzig Neue, das Meringer als sein Verdienst in Anspruch nehmen kann, ist die Gründung seiner Zeitschrift, aber mit seinem Programm hat er vielen von uns sicher nichts Neues gesagt. Zudem läuft doch jetzt die Sache entschieden Gefahr, den Kontakt mit der Wortforschung zu verlieren und zur Sprachgeschichte zu werden – mit dem die Philologie doch nicht immer etwas zu tun hat. Außerdem haben manche Aufsätze in Meringers Zeitschr. mit Sachforschung doch überhaupt nichts zu tun. Ich hoffe in 14 Tagen etwa das Bibliotheksexemplar des neuen Heftes von Meringers Zeitschr. geliehen zu bekommen. Einstweilen möchte ich Ihnen gestehen, daß ich Sie mit gleicher Sympathie wie bisher weiter verehre. Ihr früheres Flugblatt 4 wie Ihr heutiges lehrt nur leider zu deutlich, wie ängstlich Meringer sich bemüht, sein Schlagwort für |4| eine bedeutende Neuerung und einen großen Fortschritt hinzustellen. Sie, verehrter Kollege, haben so viele Jahrzehnte jetzt so viel Bedeutendes geleistet, daß sicher viele von uns zu Ihnen mit Liebe und Dankbarkeit hinaufschauen: Ihre Gelehrsamkeit scheint uns unerreichbar und Ihre Leistungen unübertrefflich. Ich meinerseits habe den lebhaftesten Wunsch, Sie möchten sich durch Meringers Rangeleien nicht in Ihrer Stimmung und Arbeit stören lassen. Meine Sympathien sind durchaus auf Ihrer Seite, auf der sie immer gewesen sind.

Indem ich Ihnen für den Winter gute Gesundheit wünsche, verbleibe ich

in alter Verehrung

Ihr ergebener

Kluge


1 Vgl. die Einzlheiten bei Schuchardt, Gegen R. Meringer, Graz 1911.

2 Schuchardt, Der Vokalismus des Vulgärlateins, Leipzig 1866.

3 Otto Schrader (1855-1919), Indogermanist, seit 1909 Ordinarius in Breslau. Er ist Vf. von Not Reallexikon der indogermanischen Altertumskunde. Grundzüge einer Kultur- und Völkergeschichte Alteuropas, Strassburg 1901.

4 Schuchardt, Fliegendes Blatt [gegen R. Meringer], Graz 1908.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 05609)