Hugo Schuchardt an Friedrich Kluge (06-HSFK_02)

von Hugo Schuchardt

an Friedrich Kluge

Graz

19. 04. 1894

language Deutsch

Schlagwörter: Etymologie Wissenschaftliche Diskussionen und Kontroversen Sprachwandel Mücke, Johannes (2015)

Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Friedrich Kluge (06-HSFK_02). Graz, 19. 04. 1894. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2017). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.5607, abgerufen am 16. 04. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.5607.


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Graz 19 April 1894.1

Hochgeehrter Herr Kollege.

Ich danke Ihnen bestens für Ihre „Wortdeutungen“2 die ich gestern bei der Rückkehr von meiner Reise vorfand. Spiniôn > exponere sagt mir durchaus zu; gegen scorrên > excurrere möchte ich den Einwand erheben dass, soviel ich sehe, die romanischen Sprachen hinsichtlich der Bedeutung keine Stütze gewähren: das lat. Wort selbst scheint mir mehr eine horizontale als eine vertikale Erstreckung zu bezeichnen. Ein ähnliches Bedenken besteht mir für scësso > excessus: das Romanische kennt wohl keine ähnliche |2| Bedeutungsentwicklung des Wortes. Eher möchte ich an excissum denken. Lassen sich aber die lautlichen Schwierigkeiten nicht überwinden um scësso mit ital. scheggio, „Felsen“ > schidium zusammenzubringen? Jedenfalls habe ich den Eindruck als ob das germanische Wort eigentlich soviel heisse wie „Splitter“, „Gespaltenes“. Wenn nun der Dat. Plural annôn belegt ist, warum ist dieser „gewiss auf das schwache Femininum annô und nicht auf ein starkes Femininum anna zu beziehen“? das letztere liesse sich aus annua „Jahresgehalt“ sehr gut erklären. Über agr. tramot weiss ich noch immer nichts zu sagen; an trames wird der Bedeutung nach nicht zu denken sein, wohl aber an irgend eine Zs. mit tra(ns)- wie tramittere, tramutare, sodass das Wort im Grunde „Uebertrag“, „Umwendung“ oder Ähnliches bezeichnen würde. Im Kymrischen existirt ein tramoy, to traverse, to pass over, das einen gewissen romanischen Geruch hat obwohl sich die zweite Silbe noch nicht hat erklären lassen.

|3| Sie haben wohl den Besuch von Paul3 gehabt. Als ich ihn in München aufsuchte, hörte ich er sei in Freiburg; es that mir besonders leid ihn verfehlt zu haben, weil ich ihm zu zeigen wünschte dass wenigstens bei mir wissenschaftliche Meinungsverschiedenheiten und ihre nachdrückliche Vertretung die sonstigen Beziehungen in keiner Weise beeinflussen.4

Mit bestem Grusse

Ihr ergebener

HSchuchardt


1 Original Freiburg, UB NL 25/260, Nr. 2.

2 Abgedr. in Festschrift zum 70. Geburtstag Rudolf Hildebrands in Aufsätzen zur deutschen Sprache und Literatur. Hrsg. von Otto Lyon, Leipzig 1894, 354-356.

3 Hermann Paul (1846-1922), Germanist und Mediävist, Vorgänger Kluges in Freiburg i.Br., der von dort nach München berufen wurde.

4 Johannes Mücke, „,... unsere freundschaftlichen Beziehungen…‘. Zum Verhältnis von Hermann Paul und Hugo Schuchardt“, in: Luca Melchior & Johannes Mücke (Hrsg.). Bausteine zur Rekonstruktion eines Netzwerks IV: Von Diez zur Sprachanthropologie. Graz: Institut für Sprachwissenschaft (= Grazer Linguistische Studien, 80), 125-164.

Faksimiles: Die Publikation der vorliegenden Materialien im „Hugo Schuchardt Archiv” erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Universitäts-Bibliothek Freiburg i.Br. (NL 25/260). (Sig. HSFK_02)