Friedrich Kluge an Hugo Schuchardt (03-05585)
von Friedrich Kluge
an Hugo Schuchardt
Unbekannt
1887-01
Deutsch
Schlagwörter: Universitätspolitik schriftliche Sprachprobe Sprachkontakt (allgemein) Orthographie Meyer-Lübke, Wilhelm Förster, Wendelin Thurneysen, Rudolf Behrens, Dietrich
Zitiervorschlag: Friedrich Kluge an Hugo Schuchardt (03-05585). Unbekannt, 1887-01. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2017). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.5604, abgerufen am 26. 09. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.5604.
[Ende Januar / Anfang Februar 1887]1
Verehrter herr College!
Zunächst die mitteilung über den stand der localfrage. Es ist wol ganz zweifellos, daß Wilh. Meyer wirklich berufen wird. er ist an 1. stelle vorgeschlagen (außer ihm nur Behrends [sic]). Ich habe von Wilh. Meyer einen nicht unwichtigen brief erhalten worin er sich bereit erklärt an der vertretung des engl. teil zu nehmen. Dies wie Ihr brief, der mich ser zu dank verpflichtet, u. ein in gleichem sinne sich äußernder brief, den ich von Prof. Förster – Bonn erzielt habe, im verein mit Thurneysens persönlicher auffassung sichern die berufung Meyers; jedenfalls weiß ich auch von unserem regierungsvertreter, daß zunächst nur an ihn gedacht wird. Die Candidatur Behrens ist völlig gefahrlos.
Was nun Ihre anfrage u. appell an mein wißen betrifft, so ist das ein sehr wunder punkt. Ich habe über die mischschriftsprachen des 16. jahrhund. |2| verschidene notizen gemacht, die Ihnen vielleicht paßen.
Die compromiße zwischen hd. u. ndd. im 16. jh. sind höchst intereßant; sie bestanden keineswegs auf dem papier allein; auch die gesprochene sprache der gebildeten sah gleichartig aus. Zudem beruht die bewegung keineswegs ausschließlich oder besonders auf litterarischem einfluß.
1) Aus dem ndd. Magdeburg um 1550; beitr. VII, p. 100 Georg Torquatus gibt einen einblick in die gebildete sprache dort. „Dat eck Dir lebe mit herz, mund u. tat“; die Ihnen zugängliche stelle der beiträge u. die dort angefürte litteratur ermöglicht einen einblick in das wesen dieser unzweifelhaften mischsprache, die aber nur auf gewiße gesellschaftsklaßen beschränkt gewesen ist.
ndd.
2) im Jahre 1521 zu Goslar erschien eine antireformatorische schrift „Klageschrift S. Stephani“, die ich bisher nirgends habe auftreiben können. Sie ist in versen. ich kenne daraus ein paar zeilen; ihr sprachhabitus deckt sich genau mit dem aus 1) zu gewinnenden. probe:2
„taffeln u. bilde haben sie gerißen dahl (herunter);
samt eigennutz haben sie laßen stahn.
den beten sie mit Wuchardus heutigen tages an.
mit den silbern götzen haben sie gedrefen (getrieben) ihren spott;
solange das sie die kriegen unter ihren rock
u. haben sie gethan in den bann,
damit sie die brachten davan (davon)
damit rahmen sie die dohr, datt dar hett ein loch etc.
dat moste sin altomal fantasei.
|3| 1582
3) In Hamburg vom Schluß des 16. Jh. Nathan Chytraeus im ndd. Wörterbuch (Vorrede) wendet sich gegen alle derartige mischung von hd. und ndd.; diese gebildete mischsprache also auch für Hamburg bezeugt.
Ähnliches aber vil bescheidener an umfang gilt von der Schweiz im 16. jh. Damals herrschte der schweizerdialekt durchaus in der lebendigen sprache u. auf einzelnen gebieten auch in den drucken. Aber in einem punkt ist hier ganz consequent mischung mit der im sonstigen oberdeutschl. herrschenden sprache: die anlautenden schweiz. ch (χ) werden nicht ch gesprochen u. gedruckt, sondern k; das steht für die gebildeten Schweizer durch das ausdrückliche zeugnis des Geßner im Mithridates fest: darnach war chrank chrut chechsilber chilch usw. schweizerisch, aber die gebildeten sprachen nach Geßner krank krūt (hd. kraut) quecksilber kirche. Dagegen hielten die schweizer im 16. jh. zäh an ihrem alten vocalismus fest.
Diese beiden bewegungen – in der Schweiz u. in Niderdeutschland – sind durchaus nicht aus der buchsprache abzuleiten. es ist kein schulmäßiger einfluß irgend einer – damals überhaupt nicht existirenden schriftsprache. sondern nach meiner auffaßung ein einfluß der gesprochenen nachbarsprache, die eleganter schien.
|4| Es ist mir nun nicht völlig sicher, ob Ihnen diese nachweise irgend dienlich sein können. Über moderne mischsprachen bin ich noch weniger orientirt. ein intereßantes beispiel dürfte der Basler stadtdialekt sein, der eine mischung aus schriftdeutsch u. schweizerdeutsch ist (die anlautenden ch sind durch k ersetzt). an der ndd. sprachgrenze begegnen merkwürdige mischungen mit dem hd., die ich in einem kürzlich erschienenen schriftchen3, das ich momentan nicht finde, kennen lernte.
Über Schleswig habe ich flg. literatur notirt one sie zu kennen.
Clement (K. J.), Schleswig das Urheim der Angeln u. Frisen, Altona 1867
Dr Clement, Das wahre verhältniß der süderjütischen nationalität u. sprache zum deutschen u. frisischen im Herzogtum Schleswig; Hamburg 1849
Kohl, Bermerkungen [sic] über die verhältniße d. deutsch. u. dän. Nationalität u. sprache in Schleswig, Stuttgart & Tübingen 1847
Aktenstücke z. Gesch.d. hd. im Herzogtum Schleswig, Kopenhagen 1856.
Ob diese schriften irgend etwas brauchbares für Sie enthalten weiß ich nicht; sie sind mir hier unzugänglich. Es würde mich freuen, wenn Sie eine diser notizen brauchen können. Im übrigen bin ich auch in zukunft nach maßgabe meines wissens stets dienstbereit.
Mit collegialem gruß ergebenst
Ihr
F. Kluge.
1 Kluge antwortet auf den vorangehenden Brief Schuchardts vom 24.1.1887
2 Von Kluge später zit. in: Von Luther bis Lessing. Aufsätze und Vorträge zur Geschichte unserer Schriftsprache, Strassburg 1897 , 121. Kluge zit. die verlorene Schrift nach „Trumphs Goslarischer Kirchengeschichte, Goslar 1704“).
3 Die Entstehung unserer Schriftsprache. Antrittsvorlesung, Jena 5.5.1886, Jena 1886 , 27 S.