Rudolf Meringer an Hugo Schuchardt (10-07046)
von Rudolf Meringer
an Hugo Schuchardt
09. 10. 1901
Deutsch
Schlagwörter: Reisen Gesundheit Bittschreiben Universitätsangelegenheiten Universität Graz Berufungen Slawische Philologie Mehrsprachigkeit (individuell) Reflexion über Wissenschaftskommunikation Publikationsvorhaben Universität Wien Umbrische Dialekte
Französisch
Englisch (USA) Italien Graz Wien Schuchardt, Hugo (1901)
Zitiervorschlag: Rudolf Meringer an Hugo Schuchardt (10-07046). Graz, 09. 10. 1901. Hrsg. von Verena Schwägerl-Melchior (2017). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.5312, abgerufen am 10. 06. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.5312.
Graz am 9/10 01
Hochverehrter Herr Hofrath!
Ich habe Ihnen zwar nichts mitzutheilen aber doch ein Anliegen an Sie, ein sehr dringendes: daß Sie nämlich doch einmal wieder nach Hause kommen möchten. Ich höre nur, daß Sie nicht wohl sind u. denke, daß zum Unwohlsein Graz ebenso gut anwendbar ist als irgendein Ort in Italien, für Sie aber weit günstiger ist, weil Sie mehr Annehmlichkeiten hier haben als unten. Halskrankheiten sind hier sehr selten, woraus folgt, daß gerade für dieses Übel Graz der Ort wäre um es mit Gemütsruhe wegzubekommen. Ich denke, daß es auch für Sie um so schwerer sein wird zurückzukehren, je länger Sie es hinausschieben. Heuer ist auch für den Süden kein schöner Winter zu erwarten und wir haben es hier gegenwärtig zwar etwas frisch aber doch windstill und ganz erträglich.1
Hoffentlich findet sich doch irgendeine energische Stimme, die Sie zur Rückkehr bewegt. Hoffentlich gehen Sie Anderen auch so ab wie meiner Wenigkeit. Sie wissen ja, daß ich hier nur einen sehr kleinen Kreis von Menschen besser kennen gelernt habe, aber das war in Wien auch nicht viel anderes. Auch dort war mein Verkehr ein eng begrenzter.
Umso mehr empfindet man einen Verlust
|2|Ihren Art. in der M. A. habe ich gelesen, aber im Café!2 Das genügt nicht. ich habe trotzdem manches gefunden, nicht mir aber den Art. selber zur gänzlichen Lectüre kommen lassen. Ein Detail dazu. Bei irgend einem großen Congress der letzten Monate beschloß man bloß franz. zu sprechen. das geschah. Und die Folge war, daß die Franzosen zumeist selbst nicht die anderen Französisch Sprechenden Gelehrten verstanden. ich habe mir meine Notiz darüber verlegt. Aber lustig ist die Nachricht gar nicht. Ich erinnere mich mit einer Amerikanerin einmal im Eisenbahnwagon französ. gesprochen zu haben – sie wollte nicht Englisch reden, ich weiß nicht warum – das war auch ein schönes Kreuz. Aber sie war jung und schön u. vornehm, da gibt man sich schon Mühe, namentlich als Junggeselle.
Wissenschaftlich ist nichts los. So ganz interessante Aufsätze höchstens. Sie werden sie rasch finden. Much3 hat mir eine Samlg. kleinerer Aufsätze geschickt – alle Achtung! der Mann ist keiner von d. kleinen Namen des […]! Der kann was. Wie lange wird es noch dauern bis man ihm einen Stuhl anbietet!
Cornu4 ist schon lange eingerückt u. hat sich schon viele Freunde gemacht. Konnte auch nicht leicht anders kommen. Ich sehe ihn öfters u. lerne viel von ihm.
Morgen fahre ich nach Wien – hinaus! wie die Grazer in unbewußter u. rührender Naivität u. Selbstironie sagen. Der Druck meiner Ak.-arbeit5 ist nämlich nach dem ersten Bogen in ein mir unfassbares Stocken gerathen, das auch meine Leute bis jetzt nicht aufzuheben vermochten.
Unterdessen sind ein Par von meinen Etymologien |3| auch von Anderen gefunden worden. Das hat mich sehr erfreut, denn bei mir stehen Sie in einem anderen Zusammenhange u. so stützt ein Gedanke den anderen.
Die Commission für die Besetzung der slawischen Kanzel ist noch immer nicht beisammen.6 Hr. Schönbach7 hat mir erklärt – ich kann es sehr warm nachfühlen -: „Ich habe auch das Recht einmal I moch net zu sagen“! Dagegen ist gar nichts einzuwenden. Das ist ja gewiß erlaubt. Wahrscheinlich wird eine neue Wahl der ganzen Commission vorgenommen werden. Eine besondere Neigung dieser Commission anzugehören ist bei Niemand zu verspüren - auch das verstehe ich, vom Standpunkte der anderen Collegen u. von meinem aber erst recht. Ich möchte schon gewiß dabei sein.8 Menschlich lustig wird nur die ganze Entwicklung der Angelegenheit werden. Wenn man nur immer den Humor von früher hätte, aber leider!
Dieser Tage hat ein Sachverständiger im Gerichtssal [sic] in Wien über einen Beklagten gesagt: „Neurasthenisch, also geistig minderwertig, aber doch verantwortlich!“ Ich danke schön! Das ist doch eigentlich etwas krank; es ist gerade so, als sagte man: „Du bist zwar kein anständiger Mensch, aber Du hast Dich als solcher zu benehmen!“ Den Stoff muß man an Björnsen9 einsenden, es ließe sich was draus machen.
Meiner Frau geht’s besser. Die örtlichen Erscheinungen haben sich zwar nicht verändert. Gott helfe weiter. Kommen Sie doch bald wieder. Ich möchte Ihnen gerne allerlei vorplaudern.
In alter Verehrung
Ihr
Rudolf Meringer
1 Schuchardt war von Frühjahr bis Herbst 1901 in Süditalien.
2 Vermutlich Schuchardt 1901 [HSA 384].
3 Rudolf Much (1862-1936), österreichischer Philologe, der 1901 den Titel eines außerordentlichen Professors an der Universität Wien, 1904 schließlich das Extraordinariat und 1906 zum Ordinarius wurde.
4 Julius Cornu (1849-1919), Nachfolger Schuchardts an der Universität Graz.
5 Vermutlich ist gemeint: Meringer, Rudolf. 1902. 'Die Stellung des bosnischen Hauses und Etymologien zum Hausrat'. Sitzungsberichte der philosophisch-historischen Classe der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften 144, VI. Abhandlung.
6 Es geht vermutlich um die Nachfolge Gregor Kreks auf dem Lehrstuhl für Slawische Philologie an der Universität Graz, die 1902 an Matija Murko ging.
7 Anton Schönbach (1848-1911), Germanist und seit 1873 Professor in Graz. Schönbach korrespondierte von 1877 bis 1911 mit Schuchardt.
8 Seitlich eingefügte Ergänzung.
9 Unter Umständen Bjørnstjerne Bjørnson (1832-1910), norwegischer Dichter und Politiker.