Hugo Schuchardt an Henri Gaidoz (116-SG32)

von Hugo Schuchardt

an Henri Gaidoz

Gotha

08. 04. 1899

language Deutsch

Schlagwörter: Zeichnung Sprachpolitik Spindel Politik- und Zeitgeschichtelanguage Dänisch Gaidoz, Henri (1899)

Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Henri Gaidoz (116-SG32). Gotha, 08. 04. 1899. Hrsg. von Magdalena Rattey (2017). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.5276, abgerufen am 14. 10. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.5276.


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Gotha, 8 Apr. 99

Verehrter Herr,

Die Rede von Ch. Richet, mit den feinen Bemerkungen gegen den mittelalterlichen Brunetière hat mir grosse Genugthuung bereitet.1 Ich gestehe dass über solche Dinge nur Franzosen so zu reden und zu schreiben verstehen; die Kundgebungen der Bertha Suttner2 und ihres Anhangs kommen mir daneben gar zu kindlich vor. Ich hoffe dass allmählich eine Liga der gerecht Denkenden und der richtig Erkennenden ganz Europa umspannen wird - ohne Statuten, ohne Mitgliederanmeldung.

Ich lege zunächst auf das zweite Moment Gewicht, auf die Richtigstellung der Thatsachen, der Ausdrücke, der Schlussfolgerungen. Dabei handelt es sich eben um Fragen des Verstandes. Ungleich |2| schwieriger ist es eine Uebereinstimmung in ethischen Fragen zu erzielen – ich hatte mich ja in der Allg. Zeit.3 darüber ausgesprochen. Man will einerseits Vergeltung üben, anderseits Schutzvorrichtungen treffen: Hammer oder Amboss.4 Wie sehr auch das heutige Vorgehen der Deutschen gegen die Dänen Missbilligung verdient, man kann davon doch nicht reden ohne des frühern Vorgehens der Dänen gegen die Deutschen zu gedenken, insbesondere des Sprachenreskripts Christians VIII von 18515, das auch unter den Dänen Gegner, gleichsam dänische Delbrücks fand. Der Bischof Martensen in Kopenhagen sagt in seinem Werke: Af mit Levnet 1882/3 II, 1656: „Wenn wir jetzt Grund haben uns über die vielfache Misshandlung und Ungerechtigkeit zu beklagen, welche der dänischen Sprache gegenwärtig in Schleswig zu Theil wird, so würde unsere Klage doch eine noch tiefere Berechtigung haben, wenn wir nicht selbst eine ebensolche Rücksichtslosigkeit bewiesen hätten wie diejenige, welche jetzt von deutscher Seite ausgeübt wird.

Den Magyaren wird es jetzt etwas unheimlich; zu gleicher Zeit haben sich zwei entgegensetzte [sic] Vorfälle zugetragen welche das Fiasko ihrer Nationalitätenpolitik charakterisiren. An dem einen Ort begann |3| ein Pfarrer magyarisch zu predigen bei einer Gelegenheit wo bisher immer deutsch gepredigt worden war und ein paar hundert „Schwaben” verliessen die Kirche und stifteten eine förmliche Empörung an; an einem andern Ort blieb ein Pfarrer - trotz höherer Veranlassung - beim Alten und predigte slowakisch, und die magyarischen Honoratioren (Beamten usw.) verliessen demonstrativ die Kirche.

Ich würde mich wie gesagt sehr freuen wenn Ihr Brief an die P. sl. den Franzosen näher gerückt würde. In Bezug auf die tiefe und wesentliche Verschiedenheit zwischen Böhmen und Ungarn im Verhältniss zur Gesamtmonarchie, zum ehemaligen Einheitsstaat darf ich nicht hoffen Sie zu bekehren, da auch unter den Deutschen vielfach eine entsprechende Auffassung geherrscht hat und vielleicht noch herrscht, die jene uralte Scheidelinie zwischen Cis- und Transleithanien7 übersieht. Aber vielleicht gelingt es mir mich mit Ihnen in Bezug auf einen andern Punkt zu verständigen. Sie sagen: „Cela me rappelle certains écrivains allemands chauvins parlant de Deutsche Kultur.8 Dem Zusammenhang zu folge muss ich annehmen dass |4| Sie die Verbindung dieser Worte als chauvinistisch ansehen. Das ist aber durchaus nicht der Fall. Wir sprechen ebenso von französischer Kultur, von italienischer Kultur u.s.w.; K. Hillebrand9 hat seiner Zeit behauptet die Deutschen besässen noch keine einheitliche Kultur, im Vergleich zu Franzosen und Engländern. In dem eben mir zugekommenen Heft der Liga Română wird für die Rumänen eine nationale Kultur verlangt, es genüge nicht „a întelege bine a cultura frančeză, reprezentații teatrale franceze, ziare franceze10 etc.” Das stimmt ja etwa zu ihrem „ensemble de mœurs, d’usages et de manière d‘être plus ou moins civilisées”11 nur dass das letztere Wort zu beseitigen oder zu ersetzen wäre; es lassen sich verschiedene gleichwerthige nationale Kulturen denken, die Civilisation ist eine und lässt nur Gradunterschiede zu. Kultur und Civilisation werden von Ihnen entweder identifizirt oder doch miteinander vermengt; bei mir wenigstens lassen Ihre Äusserungen eine ziemliche Unklarheit zurück. Das natürlich läugne ich nicht dass von deutscher Kultur in chauvinistischem Sinne gesprochen wird ebenso wie von deutscher Wissenschaft (hier scheint mir das ethnische Epitheton an sich unzulässig, falls man nicht darunter das wissenschaftliche Leben Deutschlands oder |5| dergleichen versteht), von deutschem Gemüth, von deutscher Treue (im Gegensatz zu wälscher Tücke) u.s.w.

Ich bin sehr gespannt auf die Erwiderung von D. Politeo12; aber ich glaube dass eine wirkliche Diskussion mit diesen Leuten unmöglich ist. Welch ein Gedanke die slawischen Benennungen für die italienischen ins Französische einschmuggeln zu wollen (Rieka für Fiume, Pula für Pola usw.)! Jakić13 scheint von Triest aus, um die Vorstellung zu erwecken dass das eine wesentlich slawische Stadt sei, nur Postkarten mit kroatischem Beidruck zu versenden. Ob übrigens die Laibacher zufrieden sein werden, mit zu Kroatien gerechnet zu werden, das möchte ich doch bezweifeln.

Wegen bouille und  thie brauchen Sie sich nicht zu beunruhigen; es fiel mir nur ganz beiläufig ein - vielleicht zufolge des Assoziationsgesetzes per antithesim. Man möchte doch sich von Zeit zu Zeit aus diesen Sprachenkämpfen flüchten; auch schien es mir dass die Spindel in Folklore eine genügende Rolle spiele, um etwa an eine Vertrautheit mit ihren verschiedenen Formen denken zu lassen.

Herzlichst grüssend

Ihr

H.Sch.

Siebleberstrasse ist benannt nach dem benachbarten Dorf Siebleben (vgl. Emleben, Molschleben, Teutleben, Walschleben u.s.w.)14

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1 Im Brief vom 3. April 1899 (112-03292) weist Gaidoz Schuchardt auf die im Siècle veröffentlichte Rede Richets hin. Richet erklärt, weshalb er das Wort gegen Brunetière richtet: „Les partisans de la paix, les ennemis de la guerre, ont été par lui traités assez durement, pour qu’il leur soit permis de se défendre.“  Vgl. Le Siècle (1. April 1899) in Gallica; siehe auch Fußnote [3] zum Brief vom 7. Jänner 1899, Schuchardt an Gaidoz ( 097-SG23).

2 Bertha Sophia Felicita von Suttner (1843-1914),  österr. Schriftstellerin, Journalistin, Friedensnobelpreisträgerin (1905). Ihr Roman „Die Waffen nieder!“ (1889) und dessen Übersetzungen in mehrere Sprachen verhalfen zur internationalen Verbreitung der Friedensidee. 1890 gründete sie die „Österreichische Friedensgesellschaft“. Um nur eine weitere der Besonderheiten Bertha von Suttners zu nennen: Als Teilnehmerin am 3. Internationalen Friedenskongress 1891 in Rom, war sie die erste Frau, die im großen Ratssaal auf dem Kapitol sprach (vgl. ÖBL 1815-1950 , Bd. 14 (Lfg. 63, 2012), S. 64f.).

3 Schuchardt, Hugo. 1898. 'Zur Literatur über die Sprachenkämpfe I-II'. In Beilage zur Allgemeinen Zeitung (Augsburg, München) (3. November 1898). [Archiv-/Breviernummer: 325].

4 Vgl. dazu [Archiv-/Breviernumme: 325]: Schuchardt zufolge sollte der Wahlspruch der Nationen nicht "Entweder Hammer oder Amboss" heißen, sondern "Weder Hammer noch Amboss".

5 1840 wurde unter Christian VIII. ein Sprachreskript eingeführt, das Dänisch zur Verwaltungssprache in Nordschleswig erklärte. 1851 wurden in Mittelschleswig weitere Sprachreskripte lanciert, die Dänisch als Schulsprache und Deutsch oder Dänisch als Kirchensprache bestimmten.

6 Martensen, Hans Lassen. 1882-1883. Af mit Levnet. Meddelelser. Kopenhagen: Gyldendal. Zum „Sprogrescriptet af 1851“ siehe S. 166 in dänischer Version.

7 Cisleithanien war jene Bezeichnung für den nord-westlichen Teil Österreich-Ungarns, während Transleithanien den östlichen Teil der Monarchie bezeichnete. Namensgebend war die Leitha, ein Nebenfluss der Donau.

8 Vgl. Langues d’État et langues nationales, S. 479 (Ann. des Sc. Pol., Juli 1899), die erste Version erschien in der Pensée Slave (1. April 1899) unter dem Titel "Quelques mots sur la question des langues nationales": „Ainsi M. Dinko Politeio (…) parlait du grand choc entre les deux civilisations, c’est-à-dire la germanique et la slave. ‘Cela me rappelle certains écrivains allemands chauvins, parlant de la Deutsche Cultur, lorsqu’ils s’en prévalent pour prétendre germaniser les trois millions de Polonais sujets de la Prusse (…)“

9 Hillebrand, Karl (1829-1884), geb. in Gießen, war Essayist und Publizist. Nach der Revolution von 1848 lebte, studierte und lehrte er in Bordeaux. Darauf folgte er dem Ruf auf eine Professur für ausländische (vergleichende) Literatur an die Faculté des Lettres in Douai. 1866 zog er nach Paris, bevor er sich 1871 als freier Schriftsteller, dessen Werk sich durch kulturpolitische und gesellschaftskritische Fragestellungen auszeichnete, in Florenz niederließ. (Vgl. Mauser, Wolfram, "Hillebrand, Karl" in: Neue Deutsche Biographie 9 (1972), S. 147 f. [ Onlinefassung]). Hillebrand und Schuchardt führten im März/April 1877 eine Korrespondenz, wovon sieben Briefe Hillebrands im Schuchardt-Nachlass der UB Graz aufbewahrt werden ( 04737-04743).

10 Vgl. Liga Română vom 21. März 1899, Nr. 12, S. 182, Sp. 2 in dem Artikel " Mania cu limbele străine ": „Dar să ne închipium, că mai toți Românii ar şti şi ar vorbi bine franțuzeşte şi ar avea astfel putința de a înțelege bine a cultura franceză, reprezentații teatrale franceze, ziare franceze, etc. Ce s'ar alege atunci din aspirațiunile noastre, ale celor ce vrem o mare națiune românească, cu o culturală a ei proprie în viitor ?! In asemenea cas s'ar putea zice şi despre poporul românesc: fuit!”

11 Vgl. Langues d’État et langues nationales, S. 479 (Ann. des Sc. Pol., Juli 1899).

12 In der Nr. 15 der Pensée Slave wurde angekündigt, dass die Antwort Politeios in der nächsten Nummer erscheinen würde.

13 Ante Jakić. Siehe Fußnote im Brief vom 11. Dezember 1898 ( 093-03284), Gaidoz an Schuchardt.

14 Im Brief vom 3. April 1899 (112-03292) stellte Gaidoz die Frage nach der Bedeutung von „Siebleberstrasse“.

Faksimiles: Die Publikation der vorliegenden Materialien im „Hugo Schuchardt Archiv” erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Fondo Lacombe (Euskaltzaindia). (Sig. SG32)