Hugo Schuchardt an Henri Gaidoz (113-SG31)

von Hugo Schuchardt

an Henri Gaidoz

Gotha

04. 04. 1899

language Deutsch

Schlagwörter: Sendung unter Kreuzband (Drucksachen) Nationalismus Dreyfus-Affäre Politik- und Zeitgeschichte Grazer Tagespost Archiv für slavische Philologie Loiseau, Charles (1898)

Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Henri Gaidoz (113-SG31). Gotha, 04. 04. 1899. Hrsg. von Magdalena Rattey (2017). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.5273, abgerufen am 28. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.5273.


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Gotha 4 April 99

Verehrter Herr,

Gestern habe ich einen längeren Brief an Sie geschrieben; die heute eingetroffenen 5 Exemplare der Pensée Slave N. 13 veranlassen mich Ihnen von Neuem zu schreiben.

Eine Korrespondenzkarte von Triest1 zeigte mir zugleich diese Sendung an; sie erwähnt Nichts davon dass meine Broschüre dort angekommen sei. Ich könnte es nicht über mich gewinnen an das Blatt zu schreiben, ohne ein Wort über die blödsinnigen und niederträchtigen Verläumdungen hinzuzufügen von denen es strotzt, und so schreibe ich lieber gar nicht. |2|

Blödsinnig ist das was gelegentlich der Jagićschen Aeusserung2 bemerkt wird. Denn es ist unmöglich in derselben den Ausfluss irgend einer politischen Gesinnung oder gar einer politischen Abhängigkeit zu erblicken. Ferner hat heutzutage ein östreichischer Professor wenig Aussicht ein Märtyrer zu werden wenn er sich in slawischem Sinne ausspricht.3 Endlich glaub' ich dass in Oestreich die Professoren ebenso gut (oder ebensowenig) ihre Meinung sagen dürfen wie anderswo, jedenfalls tausend Mal eher als in Russland; aber selbst was Ihr Land anlangt, hat es nicht z.B. in der Dreyfus-angelegenheit Massregelungen von Professoren gegeben?4

Niederträchtig aber ist wie die Franzosen gegen die Deutschöstreicher gehetzt werden. Bei dem Fall Loiseau5 allerdings sind die letzteren nicht betheiligt, aber keine Regierung würde derartige Angriffe gegen sich geduldet haben - ich spreche wiederum nicht von Russland, aber hat man nicht auch in Paris östreichische und ungarische Zeitungskorrespondenten ausgewiesen ohne dass man bei uns viel Aufhebens davon gemacht hätte? Den General Komarow hat man in Prag geradezu |3| den Kreuzzug der Slawen gegen die Deutschen predigen lassen6 und dann erst ihn höflichst gebeten seinen Aufenthalt abzukürzen. Ich fürchte sehr wenn ein Franzose liest: être russe ou français - c'est déjà un crime dans la monarchie habsbourgoise“, so glaubt er es oder doch etwas davon.7 Ich bitte Sie nun aber sich bei Ihrer Botschaft in Wien oder bei irgendeinem in Oestreich lebenden Franzosen zu erkundigen welche Aufnahme die Franzosen hier finden. Ich sage nicht bei den Slawen, sondern bei den Deutschen. Ich vermesse mich sogar zu behaupten dass sie mit diesen letzteren noch zufriedener sein müssen als mit den ersteren, denn sie erfahren da eine ganz unbefangene Liebenswürdigkeit und werden nicht mit unseren häuslichen Streitigkeiten behelligt, während sie - bei der Feinfühligkeit die ja ihre Landsleute grösstentheils besitzen - durch die aufdringliche Freundschaft der Tschechen u.s.w. eigentlich nicht ganz angenehm berührt sein können, da sie sich als Mittel zum Zweck, als Sturmblöcke in dem deutsch-slawischen Kampf verwendet sehen müssen. So sind kürzlich in Prag Oxforder Fussballspieler seitens der Tschechen in unerhörter Weise gefeiert worden, man hat ihnen vorgepredigt welche schwere[n] Kämpfe die Tschechen gegen die Deutschen zu bestehen hätten. Die Slawen geben sich den An|4|schein als ob sie die alleinigen, wenigstens die aufrichtigsten und wärmsten Gönner der französischen „Kultur” in Oestreich wären; ich glaube wenn es sich um grosse Nationen handelt, kann in dieser Hinsicht keine der andern ein grösseres Entgegenkommen zeigen als die Deutschen Oestreichs den Franzosen - Theater, Litteratur, Konversation. Graz gilt als die deutscheste Stadt Oestreichs und wie hat man sich um die französischen Offiziere, so oft ihrer dort waren, geradezu gerissen! Sie wissen wie sehr mir an guten Beziehungen von Franzosen und Deutschen von je her gelegen ist und Sie werden daher begreifen dass ich vor Empörung über solche slawischen Lügen zittere welche dazu dienen diese guten Beziehungen in Oestreich zu stören zu vergiften. Ich kann nicht hoffen dass irgendwo, an einer weit sichtbaren Stelle, gezeigt werde wie das Verhältniss zwischen Franzosen und Deutschen bisher wirklich bei uns gewesen ist, und muss daher fürchten dass es sich allmählich ändere. Denn wenn die in Oestreich lebenden Franzosen sich nicht ganz indifferent in Bezug auf unsere nationalen Streitigkeiten zeigen, sondern ihre Vorliebe für die Slawen offen zur Schau tragen, so stossen sie natürlich die Deutschen zurück und fordern sie heraus.

Nun endlich komme ich zu Ihrem Briefe - ich beglückwünsche Sie dazu, und hoffe dass er auch von Ihren Lands|5|leuten gelesen und beherzigt wird. In Bezug auf die Wenzelskrone sind wir freilich nicht der gleichen Ansicht; ich wiederhole Ihnen, selbst von staatsrechtlichem Gesichtspunkt aus verhält es sich mit Ungarn anders als mit Böhmen - wie ja auch jenes nie zum deutschen Reich gehört hat.8 Aber die Deutschen könnten auch wenn sie der abstraktesten Gerechtigkeit huldigten, der Errichtung eines böhmischen Staates deshalb nicht zustimmen weil die Tschechen – wie ja das heutzutage ganz klar am Tage liegt – in der Sprachenfrage nicht im geringsten diese Gerechtigkeit auszuüben geneigt sein würden. Gut, Föderalismus, aber der Nationen! Die Franzosen haben sich oft über den Unterschied der heutigen Deutschen von denen vor funfzig Jahren gewundert. Ja, die Deutschen sind ein schwärmerisches, träumerisches Volk gewesen, sie haben für alle andern Völker, für Griechen, Polen, Magyaren u.s.w. mehr geschwärmt als für sich selbst. Nun ist der Rückschlag gekommen, und wiewohl derselbe für mich zum Theil sehr unsympathische Formen angenommen hat, finde ich ihn doch, vom völkerpsychologischen Standpunkt aus, sehr begreiflich. Und wenn man nun irgendwo zu Gunsten einer andern Nation redet, so erhält man zur Antwort; „was haben uns alle die Sympathien für die andern eingebracht, wir haben mit den Polen geweint und wie hassen uns die Polen!” |6|

Ich bitte Sie mir Ihr Bildniss zu schicken; ich werde Ihnen dann das meinige von Graz aus zukommen lassen.

Von den fünf Exemplaren der P. Sl. habe ich zunächst eines an Jagić, das andere an die Grazer Tagespost geschickt.

Herzlich

Ihr

H.Sch.

Ich werde Ihnen heute unter Kreuzband den Abdruck der 1. Nummer des Gothaer Tageblattes von 1849 zugehen lassen; daraus können Sie ersehen wie man damals hier über Östreich dachte. Die Slawenfeindschaft liegt wahrlich nicht in unserm Blut; die Deutschenfeindschaft der Slawen hat sie erst hervorgerufen.

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1 Ein entsprechendes Korrespondenzstück konnte im Schuchardt-Nachlass nicht gefunden werden.

2 Gaidoz zitiert in seinem Artikel (Pensée Slave, Nr.13, Spalte 3/ auch in Gaidoz (1899b, 481)) u.a. folgende Äußerung Jagić’ aus der Zeitschrift Archiv für Slavische Philologie, XX, 1898, S. 640: „personne ne contestera que parmi les langues slaves du temps présent aucune ne jouit encore d’une autorité et d’une popularité lui permettant de remplir la fonction que la langue allemande remplit aujourd’hui.“

3 Die Bemerkung ( Pensée Slave , Nr.13, Spalte 1 unten) seitens der Redaktion der Pensée Slave ist gegen Jagić gerichtet: „Si M. Jagić était une personne indépendante, il se serait, certainement, exprimé différemment à ce propos. (...) qu’en Autriche on se sert souvent justement d’un Slave pour nuire à la cause slave. Et que le prof. Jagić se prète fort complaisamment pour un tel but, nous le savons, malheureusement, depuis longtemps.“

4 Als Beispiel sei hier Viktor Basch (1863-1944), jüd. Herkunft und in Ungarn geboren, genannt. Er lehrte deutsche Sprache und Literatur an der Université de Rennes . Mitbegründer (1898) und Präsident (1926-1944) der Ligue des Droits de l’Homme . Motiviert durch die Herausgabe von „J’accuse“ und die pétition des intellectuels, die eine Revision des Dreyfus-Prozesses reklamierte, zählte er ab 1898 zu den Verfechtern der Unschuld des Offiziers. Als einer der dreyfusards de Rennes war er Beschimpfungen und Gewaltakten durch die Anhänger der anti-dreyfusard’schen Bewegung ausgesetzt, die auch in universitären Kreisen verbreitet war  (vgl. Basch, Françoise. 2003. « Des semaines… chaudes de bataille . » Victor Basch et le deuxième procès d’Alfred Dreyfus. In Matériaux pour l'histoire de notre temps n°72. Les Droits de l'homme au XXe siècle : 4-11; Duclert 2006: 624-626).

5 Charles Loiseau, Attaché in der französischen Botschaft in Italien, war Journalist und Publizist. So verfasste er auch das 1898 bei Perrin in Paris erschienene Werk Le Balkan Slave et la crise autrichienne, das Schuchardt in der Beilage zur Allgemeinen Zeitung vom 3. November 1898 [Archiv-/Breviernummer: 325] kommentiert. Besonders hebt er den „blinde[n] Deutschenhaß“ und die slavenfreundliche Haltung des Autors hervor. Siehe dazu Brief vom 12. April 1899 (118-s.n.), Schuchardt an Gaidoz. In der Neuen Freien Presse (Nr. 12399) vom 27. Feb. 1899 (S. 5, Sp. 2) steht in einem Telegramm aus Zara: „Der französische Schriftsteller Loiseau (...) wurde seitens der politische Behörde aus allen im Reichsrathe vertretenen Königreichen und Ländern abgeschafft und hat Dalmatien bereits verlassen müssen.“ (vgl. ANNO/Österreichische Nationalbibliothek).

6 Der russische General Alexander Wissarionowitsch Komarow (1830-1904) hielt anlässlich der Palacký-Feier in Prag im Juni 1898 eine Rede. In der Presse wurde davon berichtet; vgl. z.B. Neue Freie Presse (Nr. 12150) (Abendblatt, 21. Juni 1898), S. 1., Sp. 2 in ANNO/Österreichische Nationalbibliothek).

7 Woraus Schuchardt dieses Zitat entnahm, konnte leider nicht eruiert werden.

8 Zur „question du droit historique“ schreibt Gaidoz in seinem Brief an die Pensée Slave (Nr. 13, 1. April 1899; S. 1, Spalte 2): „(...) tant que l’Autriche ne se transformera pas en état fédéral, sur le modèle de la Suisse, la reconstitution du Royaume de Saint-Etienne est un précédent et un argument pour la reconstitution de celui du Saint-Wenceslas.“

Faksimiles: Die Publikation der vorliegenden Materialien im „Hugo Schuchardt Archiv” erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Fondo Lacombe (Euskaltzaindia). (Sig. SG31)