Hugo Schuchardt an Henri Gaidoz (111-SG30)

von Hugo Schuchardt

an Henri Gaidoz

Gotha

02. 04. 1899

language Deutsch

Schlagwörter: Englischsprachige Literatur Le Temps Le Figaro Wörter und Sachen Politik- und Zeitgeschichte

Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Henri Gaidoz (111-SG30). Gotha, 02. 04. 1899. Hrsg. von Magdalena Rattey (2017). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.5271, abgerufen am 28. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.5271.


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Gotha, Siebleberstr. 33
2 Apr. 99.

Verehrter Herr,

Meine Mama, obwohl sie sehr schwach ist, erinnert sich Ihrer noch sehr gut, insbesondere des Umstandes dass Sie gar Nichts (an leiblicher Verpflegung) annehmen wollten.

Besten Dank für die neuerdings übersandten Blätter. Ich freue mich dass auch der Siècle und der Univers von Finnland sprechen; der Temps, das Journal des Débats u.s.w. thun das wohl nicht, vom Figaro, Gaulois1 & Cie ganz zu schweigen?

Die Nummer 11 der Pensée Slave habe ich ja ausdrücklich erwähnt, indem ich darauf verwies dass D. P. nur durch Ihre Vermittlung über meine Ansichten betreffs der Gleichwerthigkeit der Sprachen unterrichtet sein könnte.2 Da Sie mit ihm in privatem Briefwechsel stehen, so bitten Sie |2| ihn doch, sich einmal, privatim oder in seinem Blatt, aber ausführlich und bestimmt über das Benehmen Russlands gegen die nichtrussischen Völker, auch die slawischen zu äussern die seiner Macht untergeben sind. Das wäre doch das beste Mittel Einem begreiflich zu machen was unter pensée slave zu verstehen ist. Meine Broschüre muss jetzt längst in seinen Händen sein.3

Ich verdamme im Grunde, wie Sie wissen allen Sprachenzwang, mag er gerichtet sein gegen welches Volk er wolle. Aber ich glaube allerdings dass erschwerende und mildernde Umstände anzunehmen sind. Die Massregeln der Regierung in Nordschleswig scheinen mir nicht nur ungerecht, sondern auch für die Deutschen selbst schädlich. Eine Freundschaft zwischen Deutschen und Dänen wäre so leicht zu erzielen (hat doch jüngst, nach allem Vorgefallenen, ein Däne in der Zukunft4 einem Bündniss zwischen Dänen und Deutschen das Wort geredet!), aber eine |3| solche zwischen Polen und Deutschen lässt sich sehr schwer denken. Die Polen würden unter allen Umständen ihre Antipathie gegen die Deutschen bewahren und nach Kräften bethätigen; bedenken Sie wie den Protestanten die katholische Propaganda von dieser Seite her Furcht einflössen muss. Geben Sie wenn Sie auf diesen Punkt kommen, den Deutschen so viel Unrecht wie sie verdienen; aber wenn Sie ganz gerecht sein und zugleich das Wesen der Dinge ergründen und darstellen wollen, so vergleichen Sie das Polenthum in Preussen einerseits mit dem in Russland, anderseits mit dem in Oestreich. Die Polen d.h. der polnische Adel und die mit ihm verbündeten Juden sind an den trostlosen Zuständen schuld, die in Galizien herrschen und von denen bisher nur sehr wenig über die Grenzen hinaus lautbar geworden ist - von der Unterdrückung der Ruthenen gar nicht zu reden. Und im übrigen Oestreich stiften sie, mit ihrer Unwissenheit und Frivolität, Nichts als Unheil. So kommt es denn |4| dass sich sogar unter den östreichischen Polen manche finden die für Russland schwärmen, so der berüchtigte Pater Stojalowski.5 Die Deutschen halten sich bezüglich der Polen ganz an die Hammer oder Amboss-theorie; übrigens sind sie, wie es ja Bismarck offen aussprach, durch die Rücksicht auf Russland gezwungen den Polen keine allzugrossen Zugeständnisse zu machen. Ich höre dass ein gewisser Kozmian6, Pole, eine sehr lesenswerthe Broschüre über Bismarck veröffentlicht hat, die auch ins Deutsche übersetzt worden ist;  ich habe ihrer noch nicht habhaft werden können. Ebensowenig die von Baudouin de Courtenay über ihn gelesen;7 bei meiner raschen Abreise von Graz vergass ich dessen Schriften in drei slawischen Sprachen mitzunehmen - ich hätte hier so gut Zeit gehabt mich damit zu beschäftigen.

Das Verfahren gegen Finnland ist beispiellos; übrigens haben sogar russische Zeitungen und Zeitschriften ihre Missbilligung desselben geäussert. Der Вестник Европы8 hat schon |5| die zweite Verwarnung deshalb erhalten.

Schmock = Jude; Konzeptsbeamte ist der Gegensatz von Manipulationsbeamte, eine genaue Definition dieses Austriacismus kann ich augenblicklich nicht geben, es bedeutet einen Beamten der concipirt (wir haben auch eine eigene Beamtenkategorie, die Concopisten), der also selbständig vorgeht, ich vermuthe dass damit alle Beamten gemeint sind die nach Ablegung juristischer Prüfungen im Staatsdienst angestellt sind.

Schonen Sie Ihre Gesundheit: gewähren Sie sich möglichst viel Ruhe. Ich denke mich, meiner Gesundheit wegen, demnächst pensioniren zu lassen. Der Polemik freilich kann man, so lange man mit der Feder arbeitet, nicht entgehen; entweder man greift an oder man wird angegriffen, man kann sich nicht von aller Berührung mit |6| Andern freihalten.

In dem Werke Gobineaus haben mich u. A. seine Bemerkungen über den fremdartigen Charakter der Landbevölkerung in einem grossen Theil Frankreichs interessirt. Das aber fällt Einem wohl mehr oder weniger überall auf dass der Bauer, ganz abgesehen von dem Unterschied der Bildung, unser Einem wie ein ganz fremdes Wesen gegenübersteht; seine religiösen Vorstellungen sind, bei der Gleichheit der Kirche, ganz andere als die des Städters.

Ich glaube, ich schrieb Ihnen schon vor einiger Zeit dass die Beschäftigung mit romanischen Wörtern auf die mit romanischen Sachen geführt hat, so bin ich neuerdings der Fischtrampe (bouille) und dem obern Spindelende (thie) mit Aufwand von viel Mühe nachgegangen. Gerade aus Nordfrankreich habe ich wenig Material darüber; wenn Ihnen etwas darauf Bezügliches unterkommen sollte, bitte mir es mitzutheilen - nothwendig ist es gerade nicht, da ich die betreffende Abhandlung9 schon an unsere Akademie eingesandt habe, im Drucke könnte ich immerhin einige Zusätze machen.

Mit bestem Grusse

Ihr erg

H.Sch.

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1 Le Gaulois, eine französische politisch-literarische Tageszeitung, sie wurde 1868 gegründet. 1929 fusionierte sie mit Le Figaro.

2 Siehe Brief vom 26. März 1899 (108-SG28), Schuchardt an Gaidoz.

3 Im Brief vom 22. März 1899 empfiehlt Gaidoz Schuchardt die Broschüre [Archiv-/Breviernummer: 324] an die Redaktion der Pensée Slave zu senden.

4 Die Berliner Wochenzeitschrift „ Die Zukunft“ (Hrsg. Maximilian Harden) erschien von 1892-1922.

5 Stanislaw Stojalowski (1845-1922), galiz. Politiker, Geistlicher und Publizist, kämpfte v.a. für die Rechte der poln. Bauern in Galizien (1893 Gründung einer Bauernpartei) und wurde aufgrund der populistischen und russophilen Töne in seinen Artikeln der Zusammenarbeit mit der russ. Polizei verdächtigt, was in den Presseprozessen von 1899 zum Teil bestätigt werden konnte (vgl. ÖBL 1815-1950 , Bd. 13 (Lfg. 61, 2009), S. 304).

6 Stanislaw Koźmian (1811-1885) war ein poln. Schriftsteller, der sich am poln. Novemberaufstand von 1830 gegen die russiche Hegemonie beteiligte. Als Folge auf den für Polen negativen Ausgang emigrierte er nach England. Seine Bekanntheit ist bes. der Übersetzung Shakespeares ins Polnische zu verdanken. Die hier genannte Broschüre ist folgende: Koźmian, Stanislaw. 1898. Ein Pole über Bismarck nach dessen Tode . Wien: R. Kamus.

7 Baudouin de Courtenay, Jan. 1898. Cenzurnyja meloči. I. Knjaz' Bismark i gonenie "Slavjan'' . Kraków: Izdanie avtora.

8 Der Вестник Европы (dt. Vestnik Evropy ‚Der Bote Europas‘), ein historisches, politisches und literarisches Journal gemäßigt liberaler Ausrichtung, erschien von 1866-1918. Zu Beginn nur viermal jährlich verlegt, erschien es später monatlich. Sein Gründer war der russische Literat Mikhail Matveevich Stasyulevich, der bis 1909 als Herausgeber fungierte. 1918 wurde die Auflage auf Anweisungen sowjetischer Machthabenden eingestellt (vgl. Saint Petersburg Encyclopaedia).

9 Schuchardt, Hugo. 1899. 'Romanische Etymologieen II'. In Sitzungsberichte der philosophisch-historischen Classe der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. Wien 141: 1-122. [Archiv-/Breviernummer: 335], insbes. S. 39-41 zu thie sowie S. 94 f. und S. 129 zu bouille. Zu frz. thie äußerte sich Schuchardt nochmals gesondert in: Schuchardt, Hugo. 1900. Franz. thie (zu Rom. XIX, 200f. 208), in: Zeitschrift für rom. Philologie 24, 572. [Archiv-/Breviernummer: 370].

Faksimiles: Die Publikation der vorliegenden Materialien im „Hugo Schuchardt Archiv” erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Fondo Lacombe (Euskaltzaindia). (Sig. SG30)