Hugo Schuchardt an Henri Gaidoz (108-SG28)

von Hugo Schuchardt

an Henri Gaidoz

Gotha

26. 03. 1899

language Deutsch

Schlagwörter: Englischsprachige Literatur Nationalität Politik- und Zeitgeschichte Hugo-Schuchardt-Brevier

Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Henri Gaidoz (108-SG28). Gotha, 26. 03. 1899. Hrsg. von Magdalena Rattey (2017). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.5268, abgerufen am 28. 09. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.5268.


|1|

Gotha, Siebleberstr. 33
26 März 99

Verehrter Herr,

Sie müssen mir verzeihen dass ich Ihnen nicht früher geschrieben habe; in Graz war ich während der beiden letzten Wochen immer mehr oder weniger leidend und ausserdem durch den Abschluss einer grösseren Arbeit1 ganz in Anspruch genommen um möglichst rasch hierher zu meiner alten kranken Mutter eilen zu können.

Dafür dass die in der Anzeige meiner Schrift von Ihnen dargelegten oder vielmehr angedeuteten Ansichten durchaus massvolle sind, dafür brauchten Sie nicht als Beweis anzuführen dass sowohl ich als Herr Politeo mit Ihnen unzufrieden sind.2 Denn erstens wissen Sie dass meine Unzufriedenheit sich bloss auf Ihre Prophezeiung erstreckt und zweitens bedanke ich mich für den im russischen Solde stehenden Expriester als gleichwerthigen Antipoden. Ich denke doch (selbst zugegeben dass wir uns als Deutscher und Slawe nie vollkommen verständigen können) dass ich ein etwas strengeres Gerechtigkeitsgefühl besitze als er, etwas geläutertere Anschauungen. So viel ich sehe, ist er bis zum Wahnsinn Russophile, gegen seine Gallophilie habe ich an sich Nichts einzuwenden, nur ist mir diese nur eine schlecht maskirte Germano|2|phobie und ich finde seine Liebesbewerbungen bei den Franzosen etwas plump. Da Sie mit ihm in brieflichem Verkehr stehen, so fragen Sie ihn doch was er über das Benehmen der Russen gegen Polen, Kleinrussen, Finnen, Deutsche u.s.w. denkt; das wird er ganz in der Ordnung finden. Ich glaube, das ganze Übel das uns beschäftigt, wird beständig von Russland aus genährt; könnte wenigstens von dort aus am Leichtesten behoben werden. Mit seiner Abrüstungsidee wird der Zar wenig Erfolg haben; welch andere Wirkungen könnte er erreichen wenn er in seinem Reiche die Duldung der Nationalitäten proclamirte! Besonders aufregend auf uns Westeuropäer wirkt dass in Russland nun auch mit jeglichem Mittel die religiöse Uniformirung betrieben wird. Man kann unseren Nationalitätenkampf in seinem ganzen Umfang gar nicht zur Darstellung bringen ohne mit Russland zu beginnen; die Franzosen aber vermeiden dies aus Opportunismus. Hand aufs Herz, sind nicht auch Sie überzeugt dass der despotische Sinn bei den Slawen nicht bloss bei den Russen weiter verbreitet ist, tiefer wurzelt als bei den Germanen? Sehen Sie sich doch in den befreiten Balkanstaaten um für die man bei Ihnen so |3| schwärmt, die man vor Oestreichs Einfluss schützen will - wo gibt es da wahrhaften Freiheitssinn? Es handelt sich immer nur um die Freiheit für die eigene Person, nicht um die Freiheit die man Andern gewährt. Wenn, wie ich durchaus anerkenne, bei den Tschechen, die einst im Dienste des deutschen Centralismus Magyaren u. A. mehr bedrückten als dies die Deutschen selbst thaten, jetzt breite Schichten von liberaler Gesinnung erfüllt sind, haben sie diese etwa sich von den Russen angeeignet, und nicht vielmehr von den Deutschen? Meinetwegen auch von den Franzosen; nur müssen Sie nicht vergessen dass in früheren Zeiten, noch vor einem halben Jahrhundert, die direkten Verbindungen der Tschechen mit den Franzosen sehr geringe und dürftige waren. Selbst jetzt ist ja naturgemäss von einer breiten Berührung nicht die Rede.

Dass Dinko Politeo meine Broschüre3 selbst nicht gelesen hat, das habe ich u. A. aus dem gesehen was er in Bezug auf meine Auffassung der Gleichwerthigkeit der Sprachen sagt. Und dieser Punkt ist insofern für mich von Wichtigkeit als so viel ich mich entsinne, Ihre |4| Bemerkung darüber Anlass zu Missverständnissen geben kann. Ich glaube dass ich in Bezug auf Kultur, Litteratur, Sprache den Tschechen durchaus gerecht geworden bin. Was Jemand von mir denke welcher meint dass der Sieg der Tschechen im Interesse auch der Civilisation sei, ist mir ganz gleichgültig; 4 aber da Sie es wünschen, werde ich dem Herrn von Graz aus meine Broschüre zusenden lassen.

Wenn man auf Russland blickt, so wird man nachsichtig gegen die Magyaren gestimmt. Das was sie hauptsächlich zu ihrem Vorgehen gegen die Nichtmagyaren antreibt, ist die Besorgnis von dem slawischen Meer verschlungen zu werden. Und so ganz ungegründet ist diese Besorgnis nicht, und insofern können sich die Slawen nicht allzusehr beklagen als unter ihnen oft genug der entsprechende Wunsch ausgesprochen worden ist. Ich ärgere mich besonders über das Unlogische das sich überall einmischt. Man hatte neuerdings von Deutschland aus durch Flugschriften die Deutschen Ungarns ermuthigt ihrer Sprache treu zu bleiben; das war den Magyaren sehr unangenehm, ich begreife es, aber dass sie nun wieder wie in allen entsprechenden Fällen mit ausdrücklichen Worten Behinderung der Magyasirung und Germanisirung gleich|5|setzen, das finde ich zu dumm; ich werde mich darüber einmal vom rein wissenschaftlichen Standpunkt aus äussern.5

Es wird mich sehr interessieren zu erfahren was die rumänische Liga zu meinen Auslassungen sagt.

Ich weiss nicht ob es mir möglich sein wird, hier Westermanns Monathefte vom März einzusehen.6

Ascoli hat vor einiger Zeit im Triester Indipendente einen Artikel über den Kampf der Italiener und der Südslawen an der Adria geschrieben (ich habe ihn nur in einem zerfetzten Exemplar zu Gesichte bekommen);7 mir hat darin besonders die Bemerkung gefallen dass wenn die Slawen - was ja ganz berechtigt ist - ihre eigenen Kulturcentren zu haben wünschen, sie sich solche gründen mögen, nicht die von andern Nationen gegründeten erobern. Der italienische Charakter von Triest ist bisher nie bestritten worden; nun soll er durch die slowenische Zuwanderung verwischt werden. Ebenso ist es mit andern italienischen Orten, ebenso mit deutschen Städten in Böhmen. Nehmen Sie eine so urdeutsche Stadt wie Eger8, deren staatsrechtliche Zugehörigkeit zu Böhmen sogar in Zweifel gezogen werden kann, und nun denken Sie sich dass da die tschechische Amtirung einzieht. Und das soll Gerechtigkeit sein! |6|

Ich lese jetzt gerade das ältere Werk von Gobineau9, sur l'inégalité des races humaines, leider, da ich des französischen Exemplars hier nicht habhaft werden kann, in einer deutschen Uebersetzung, die seit vorigem Jahre erscheint. Ich schäme mich sehr das Buch bisher nicht gekannt zu haben; welches ist ihr Urtheil darüber und wie hat man es wohl seiner Zeit in Frankreich aufgenommen? Ein Artikel über Nietzsche führte mich darauf; dieser war voll Bewunderung für Gobineau. Merkwürdig ist es nun dass Gobineau die Germanen oben anstellt, Nietzsche aber nur von französischer Kultur Etwas hält, auf die deutsche verächtlich herabsieht. Vielleicht schreibe ich Ihnen, im Anschluss an Gobineaus Lektüre, demnächst mehr.

Mit bestem Grusse

Ihr ergebener

H. Schuchardt

|7|

1 Es ist davon auszugehen, dass Schuchardt damit die Romanischen Etymologieen II meint, da diese in seiner Publikationsliste aus dem Jahr 1899 die größte Publikation darstellt. Vgl. Schuchardt, Hugo. 1899. 'Romanische Etymologieen II'. In Sitzungsberichte der philosophisch-historischen Classe der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. Wien 141: 1-122. [Archiv-/Breviernummer: 335].

2 Siehe Brief vom 22. März (107-03290) Gaidoz an Schuchardt: Vous me trouviez Tchèque, onm’y trouve Allemand: voila, ce que l’on gagne à être modéré.“

3 Schuchardt, Hugo. 1898. Tchèques et Allemands. Lettre de M. Hugo Schuchardt, Correspondant étranger de l'Institut de France à M. ***. Paris : Welter. [Archiv-/Breviernummer: 324].

4 Schuchardts Auffassung der „Gleichwerthigkeit“ der Sprachen (Deutsch/Tschechisch) legt Gaidoz auf S. 111 in [Gaidoz 1899a] dar. Dazu äußert sich Politeo wie folgt: „(...) Schuchardt oppose à la ‚parité’, réclamée par les Tchèques, le vieil argument que, en fait de parité ou égalité, on ne peut pas dire un mot dans le sens que lui prètent les Tchèques, n’existant pas de valeur entre les deux langues ( gleichwhertig). Il nous semble que cet argument, qui est une offense pour un peuple slave, ami de la France, devrait faire bouillir de colère le sang d’un français (...) la lutte tchèco-allemande ne peut être considérée isolément. Elle se présente sous deux aspects: un particulier, presque local; l’autre, général, qui réprésente le grand choc entre les deux civilisations, c’est-à-dire la germanique et la slave.“ (Vgl. La Pensée Slave , Nr. 11, 18. März 1899).

5 Zu einer Publikation in Bezug auf dieses Thema kam es wohl nicht.

6 In der Depotbibliothek Graz, die den Gesamtbestand der Westermanns illustrierte deutsche Monatshefte: ein Familienbuch für das gesamte geistige Leben der Gegenwart der UB Graz verwaltet, liegen keine Exemplare aus den 90er Jahren vor. 

7 L’Indipendente erschien von 1877-1923. Als giornale politico, economico, letterario, commerciale, marittimo fungierte L’Indipendente als Sprachrohr des triestinischen Irredentismus. Der Artikel Ascolis erschien im Independente vom 22. Februar 1899 unter dem Titel "Italiani e slavi nella Regione Giulia", der wie im Independente (S.2) mitgeteilt, bereits am 20. Feb. in der Zeitschrift La Vita Internazionale veröffentlicht worden war.

8 Eger ist die heutige westtschechische Stadt Cheb.

9 De Gobineau, Arthur. 1853-1855. Essai sur l’inégalité des races humaines , Paris: Didot. In dt. Übersetzung erschien der erste Band des Werks in Stuttgart bei Frommann 1898 unter dem Titel Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen. Die Herausgabe der drei weiteren Bände in deutscher Übersetzung folgte 1902.

Faksimiles: Die Publikation der vorliegenden Materialien im „Hugo Schuchardt Archiv” erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Fondo Lacombe (Euskaltzaindia). (Sig. SG28)