Hugo Schuchardt an Henri Gaidoz (102-SG26)

von Hugo Schuchardt

an Henri Gaidoz

Graz

18. 01. 1899

language Deutsch

Schlagwörter: Hugo-Schuchardt-Brevier Rezension Nationalität Nationalismus Ministerium für Cultus und Unterricht (Wien) Annales des sciences politiques Gaidoz, Henri (1899) Baudouin de Courtenay, Jan (1898)

Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Henri Gaidoz (102-SG26). Graz, 18. 01. 1899. Hrsg. von Magdalena Rattey (2017). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.5262, abgerufen am 09. 10. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.5262.


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Graz, 18 Jänner 99

Verehrter Herr,

Ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihre Besprechung meiner Brochüre; aber, offen gestanden, hätte ich gewünscht Sie hätten mich nicht so sehr gelobt, und hätten auf die darin enthaltenen Fragen eine bestimmtere Antwort gegeben. Ich habe mich bemüht das politische Problem ins Wissenschaftliche zu übersetzen: die Linien des einen Systems (der Länderautonomie) kreuzen sich mit dem des andern (der nationalen Gleichberechtigung); welches sind die dickeren, welches die dünneren Linien? Ich glaube, die Nationalität ist das Moment welches am Meisten in die Wagschale fällt; Sie konnten dem beistimmen oder das bestreiten, nämlich die „Eigenartigkeit“ „die historisch-politische Individualität der Länder in den Vor|2|dergrund stellen wie das unser verflossener Kultusminister Madeyski1 in einer eben erschienenen und Ihnen sofort von mir zugesendeten Brochüre2 thut. Für einen Ausländer, insbesondere für einen Franzosen war es fast anlockend, gewisse allgemeine Anschauungen zu entwickeln, die dann auf diesen oder auf andre Fälle sich anwenden liessen. Übrigens hätte ich einige Aperçus über die richtige Schätzung des Historischen gehabt! Was bleibt denn uns Gelehrten anders übrig als „une discussion théorique et académique”?3 Es ist schon lange her, fünfzehn Jahre mindestens, dass ich den lebhaftesten Wunsch hege und auch ausgesprochen habe, es möge sich wenigstens in der Theorie ein consensus der Gelehrten und der Denker der verschiedenen Nationen über derartige Fragen herausbilden. Es mag nun sein dass es Ihnen angezeigt schien, auf diesen raisonnements in abstracto nicht zu verweilen und es ist ja richtig dass es die Macht ist welche Alles entscheidet. Aber dann brauchen wir überhaupt nicht zu disseriren und zu diskutieren. Sie sagen in Ihrem Briefe les vieux droits ressuscitent quand il y |3| a derrière eux une force qui en fait chose vivante."4  Ich sage die Macht bethätigt sich auch wenn sie gar kein Recht vor oder, wie wir sagen, hinter sich hat. Ein Königreich Slowenien das historisch auch nicht die geringste Begründung hat, würde wenn die Slowenen über die gleichen Kräfte verfügten wie die Tschechen, ebenso viel Aussicht auf Verwirklichung haben wie ein Königreich Böhmen. Wenn Sie nun aber ziemlich bestimmte Andeutungen über die Zukunft machen, so beurtheilen Sie - verzeihen Sie mir - die Sachlage doch nicht richtig. Ich halte eine Herstellung des Königreiches für unwahrscheinlich; ich habe Vorsichts halber gesagt, sie ist nicht unmöglich, aber auch dann nur vorübergehend. Die Tschechen allein können sie nicht durchsetzen; die Polen welche zwar bis zu einem gewissen Punkt Hand in Hand mit ihnen gehen, wollen Nichts davon wissen (wie Sie der Pole Madeyski belehren wird), den Slowenen kann auch daran nichts liegen, weil das von ihnen |4| geträumte Königreich auf dem entgegengesetzten Prinzip (welches die alten Landesgrenzen verwischen will) beruht. Übrigens hält die jetzige Majorität nur mit Mühe und Noth zusammen; unter den Clerikalen zeigen sich Spaltungen, viele schämen sich doch der Judasrolle dem eigenen Volke gegenüber - und bei den Neuwahlen werden sich wohl andere Ergebnisse als bisher herausstellen, die Italiener sind wegen des in Pisino5 bewilligten kroatischen Gymnasiums gegen die Regierung erbittert, und denken sich den Deutschen anzuschliessen, die Slowenen drohen, da die Regierung ihren Forderungen nicht nachgibt, mit dem Abfall. Niemand unter uns würde es aussprechen dass er die Krönung des Nachfolgers unseres jetzigen Kaisers zum König von Böhmen für wahrscheinlich halte. Höchstens in Gemässheit des bekannten Satzes dass bei uns immer das Unwahrscheinliche geschieht. Wenn Sie aber damit schlossen: „M. Sch. demande plus que les Allemands d'Autriche et de Bohème n’ont aujourd’hui chance d’ob|5|tenir”6 so ziehen Sie selbst an der tschechischen Glocke, stärker als dies Auerbach gethan hat, der ja an dem Erfolg der Tschechen zweifelt. Dass die Deutschen die Hegemonie in Oestreich verlieren, das ist vorauszusehen, soweit es nicht schon geschehen ist; dass sie aber nicht einmal ihren eigenen Boden gegen die Slawen zu halten vermöchten, das heisst doch ihre Kräfte gar zu sehr unterschätzen.7 Und wenn es selbst zu einem Weltkriege käme, so würde Russland doch nur die slawischen Gebiete Oestreichs schützen (oder vielmehr annektieren), aber kaum die Hand auf Deutschböhmen oder sonstiges deutsches Gebiet legen. Welcher Vortheil für die Franzosen bei alle dem herauskommen soll, vermag ich nicht einzusehen; vom französischen Standpunkt wäre ein klerikales, reaktionäres, aber unter deutscher Hegemonie stehendes Oestreich das Günstigste gewesen. Den Tschechen werden Sie eine grosse Freude mit ihrem Schlusswort machen. Sie sind in Bezug auf den Triumph ihrer Sache viel weniger zuversichtlich als Sie, und werden daher bei Ihnen eine grosse Ermuthigung finden. |6| Ob Sie mit ihnen sympathisiren oder nicht, ob Sie ihnen Recht geben oder nicht, das ist ihnen schliesslich gleichgültig; Sie sind von ihrem Erfolg mehr oder weniger überzeugt, das genügt – Sie sind ihr Mann.

Sie haben wohl gefühlt dass sich bei mir einiger Widerspruch regen würde; denn es ist doch nicht gewöhnlich dass man auf eine wohlwollende Kritik eine Antwort erwartet, wie Sie mir eine solche erleichtern wollten.8 Einen Augenblick habe ich daran gedacht. Aber soll ich mich jetzt, wo ich so vielerlei Andres vorhabe und mit Allem so langsam vorwärts komme, auf französische Stilübungen einlassen? soll ich Ihnen zumuthen einen deutschen Brief von mir ins Französische zu übersetzen? Die Hauptsache jedoch fiel mir bald ein: es hätte dem französischen Publikum gegenüber gar keinen Sinn wenn ich das sagte was ich von Ihnen gesagt zu |7| haben wünschte. - Ich werde selbst vielleicht über diese ganze Angelegenheit noch einmal in einer deutschen Zeitung äussern, vielleicht im Anschluss an einige Brochüren von Prof. Baudouin de Courtenay9 in Krakau (in tschech. poln. und russ. Sprache). B. de C., Pole, war bis vor einigen Jahren in Russland (zuletzt in Kiew), kam dann an die Universität Krakau; nun aber hat, auf Anlass einer dieser Brochüren (die u. d. Titel „Falsche Fassionen“ auch ins Deutsche übersetzt ist; doch bin ich ihrer noch nicht habhaft geworden)10 die Regierung den mit ihm auf fünf Jahre eingegangenen Vertrag ihm gekündigt. Wegen eines Aufsatzes über die Slowaken in Ungarn wurde er dort als panslawistischer Agitator behandelt. Er hat mir über das Alles selbst geschrieben.11 - Welche trostlose Zustände, durch Schuld des polnischen Adels (der |8| repräsentiert ja das Volk) in Galizien herrschen das mögen Ihnen einige Artikel darthun die ich Ihnen (leider nur in fragmentarischem Zustande) zugehen lasse. Sie besitzen deshalb Werthe, weil sie ganz aus polnischen Quellen schöpfen.

Was die Entstehungsweise der Paral. progr. und der Tabes anlangt, so kann man nicht sagen, on commence à croire dass sie in der Syphilis liege.12 Im Gegentheil ist man neuerdings von dieser Ansicht, die so viel ich weiss ausschließlich auf die Statistik gegründet ist, etwas zurückgekommen.

Nochmals den Ausdruck meiner Erkenntlichkeit die trotz der gemachten Bemerkungen Ihnen bleibt.

Mit herzl. Gr.

Ihr g. erg.

H.Sch.

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1 Stanislaw Jerzy von Madeyski-Poray (1841-1910), galizischer Jurist und Politiker. Prof. für österreichisches Zivilrecht an der Univ. Krakau, 1891 und 1892 Rektor. Von 1893-1895 bekleidete er das Amt des Kultusministers  im Koalitions-Kabinett Windischgrätz (vgl. ÖBL 1815-1950 , Bd. 5 (Lfg. 25, 1972), S. 400f.).

2 Damit ist vermutlich folgende Broschüre gemeint: Madeyski-Poray, Stanislaw. 1899. Die Nationalitätenfrage in Österreich und ihre Lösung . Wien: Tempsky.

3 Schuchardt greift hier Gaidoz’ schriftlich formulierte Gedanken auf: „Qu’il y ait incompatibilité entre ce qu’on appelle en général (quoique le terme soit sujet à discussion) le ‚principe des nationalités’ et le ‚droit historique’, cela ne peut être contesté dans une discussion théorique et académique. Mais les questions politiques se résolvent-elles par des considérations de ce genre, et par des raisonnements in abstracto?“ (Vgl. Gaidoz 1899a, 113).

4 Siehe Brief vom 10. Jänner 1899 (098-03285), Gaidoz an Schuchardt.

5 Pazin in Istrien.

6 Vgl. Gaidoz 1899a, 114.

7 Diese Einschätzung Schuchardts in Bezug auf die Deutschen in Österreich ist wohl eine Erwiderung auf Gaidoz‘ Behauptung: „Les Allemands d’Autriche devront se résigner à ces transformations, quoiqu’ils puissent regretter de ne plus pouvoir, peut-être, se dire encore Autrichiens;“ (Vgl. Gaidoz 1899a], 114).

8 Siehe Brief vom 15. Jänner 1899 (101-03286), worin Gaidoz Schuchardt anbietet: „Si vous voulez répondre à mon article dans les Annales des Sciences Politiques,  on ne refusera certainement pas de publier une réponse de vous, présentée par moi (…)“.

9 Schuchardt und Baudouin de Courtenay standen von 1884-1922 in Briefkontakt zueinander, wobei die Korrespondenz nicht durchgehend verlief. Die Briefe von Baudoiun de Courtenay an Schuchardt befinden sich im Schuchardt-Nachlass (00578-00611), die edierten Briefe im Web sind abrufbar unter: Eismann, Wolfgang & Bernhard Hurch. 2014. 'Die Korrespondenz zwischen Jan Baudouin de Courtenay und Hugo Schuchardt'. In Bernhard Hurch (Hg.) (2007-). Hugo Schuchardt Archiv. siehe Webedition.

10 Im Brief vom 15. Jänner 1899 ( 57-00603) an Schuchardt kündigt Baudouin die Übermittlung der „Broschüre über die falschen Fassionen“ an. Es handelt sich bei dieser um folgende Broschüre: Baudouin de Courtenay, Jan. 1898. Jeden z objawów moralności oportunistyczno-prawomyślnej. Kraków: Gebethner i Wolff.

11 Siehe Brief vom 15.1.1899 (57-00603), Baudouin an Schuchardt.

12 Im Brief vom 15. Jänner 1899 (101-03286) schreibt Gaidoz : „ (…) dans ces dernières années on commence à croire en médecine que la paralysie générale (et aussi le tabes ou ataxie) sont des conséquences lointaines de la syphilis.“

Faksimiles: Die Publikation der vorliegenden Materialien im „Hugo Schuchardt Archiv” erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Fondo Lacombe (Euskaltzaindia). (Sig. SG26)