Hugo Schuchardt an Henri Gaidoz (093-SG21)

von Hugo Schuchardt

an Henri Gaidoz

Graz

20. 11. 1898

language Deutsch

Schlagwörter: Budapesti Hírlap Auerbach, Bertrand (1898)

Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Henri Gaidoz (093-SG21). Graz, 20. 11. 1898. Hrsg. von Magdalena Rattey (2017). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.5253, abgerufen am 28. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.5253.


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Graz 20 Nov 98.

Verehrter Herr,

Ich danke Ihnen bestens für Brief und Recension. Es hat mich überrascht dass Sie von dem Index im BudapestiHírlap,1 meinem Leibblatt, Kenntniss bekommen haben. - Körösy hat mir einen langen Brief2 geschrieben; er bekennt sich als aufrichtigen und praktisirenden Anhänger der „auf dem Selbsterhaltungstrieb beruhenden energischen Nationalitätspolitik“. Auch von B. Auerbach habe ich einen liebenswürdigen Brief3 erhalten, durch den freilich mein Vorwurf nicht entkräftet wird, dass er sich über das „böhmische Staatsrecht“ schwankend und widerspruchsvoll ausdrücke.4 Mögen die Franzosen die Gleichberechtigung zwischen den östreichischen Nationen vertreten, sich |2| gegen die Hegemonie der Deutschen aussprechen - gut; sie sollen aber dann auch nicht die Hegemonie der Tschechen predigen und sich mit klaren und bestimmten Worten gegen diese wahnsinnige Idee der Errichtung eines slawischen Nationalstaates mitten unter Deutschen wenden. Was mich anlangt, so missbillige ich das Vorgehen der Reichsdeutschen gegen die Polen ebenfalls, aber allerdings in minderem Grade als das gegen die Dänen. Denn es scheint nicht möglich mit dem polnischen Klerus in ein friedliches Einvernehmen zu kommen. Und wir in Oestreich sehen nun täglich wie wenig die Polen und Tschechen da wo sie Gewalt besitzen, daran denken Gerechtigkeit zu üben, dass es an Donquixoterie grenzen würde, wollten wir jetzt nur das Bestreben haben selbst gerecht zu sein. Es wäre mir ange|3|nehm zu wissen, wie Sie über die Expansion der Tschechen selbst über die Grenzen ihres Königreiches hinaus denken die nicht in national indifferenter Weise geschieht wie anderswo in entsprechenden Fällen, sondern in provocirender, herrschgieriger Weise. Es wundert mich dass Lángs Artikel5 in der Revue politique et parlementaire erschienen ist. Wenn man bei Ihnen so viel Interesse an unsern Angelegenheiten nimmt, so muss ich eigentlich darüber empfindlich sein dass von allen Zeitungen und Zeitschriften in Paris an die H.6 Welter meine Broschüre7 geschickt hatte (gegen dreissig!), keine einzige davon Notiz genommen hat (auch die Rev. pol. et parl. nicht). Bei Lichte besehen, ist das allerdings keine Ungerechtigkeit gegen meine Person, wohl aber eine solche gegen die Deutschen im Allgemeinen, wenigstens kann ich mir |4| dies Stillschweigen nur aus der Slawophilie der Franzosen erklären. Und selbst so nicht einmal recht; man hätte mich ja widerlegen, man hätte vernichtende Kritiken gegen mich schreiben können8 - es wäre mir erwünschter gewesen als ganz ignoriert zu werden. Wahrscheinlich wird man bei Ihnen auch über die empörende Weise wie in Russland Murawiews Andenken gefeiert wird,9 schweigen. In Oestreich hat man meine Flugschrift ebenfalls nicht berücksichtigt - offenbar weil sie französisch geschrieben war und den Oestreichern nichts Neues sagen konnte.

Slovaken an der von Ihnen angeführten Stelle ist richtig; ich meinte dass die Slovaken Ungarns und die Slovenen Oestreichs im grossen Ganzen auf dem gleichen kulturellen Niveau stehen.



Hugo Schuchardt

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1 Leider ist hier der Bezug nicht klar. Im nächsten Brief vom 11. Dezember 1898 (093-03283) schreibt Gaidoz hierzu: „C’est par vous que j’avais appris (cet été) qu’Auerbach avait été mis à l’Index par le Budapesti Hirlap.“

2 Von der Korrespondenz zwischen Josef Körösy von Szántó und Schuchardt sind drei Briefe von Körösy an Schuchardt im Schuchardt-Nachlass erhalten (05736-05738). Vermutlich ist jener Brief vom 13.11.1898 ( 05736) hier gemeint. Körösy (1844-1906) zuerst als Beamter bei einer Versicherungsanstalt in Budapest, ab 1868 als Journalist tätig, fand seine Berufung in der Statistik. So organisierte er ab 1869 das statistische Bureau in Budapest, dessen Leitung er bis 1906 inne hatte (vgl. ÖNB (Hg.). 2002. Handbuch der österreichischer Autorinnen und Autoren jüdischer Herkunft 18. bis 20. Jahrhundert , Band 1. München: K.G. Saur). Vgl. auch Brief vom 16. Jänner 1899 (58-356) in Eismann, Wolfgang & Bernhard Hurch. 2014. 'Die Korrespondenz zwischen Jan Baudouin de Courtenay und Hugo Schuchardt'. In Bernhard Hurch (Hg.) (2007-). Hugo Schuchardt Archiv, siehe Webedition. Schuchardt schreibt hierin an Baudouin de Courtenay: „Mit den Slowaken in Ungarn habe ich mich vorübergehend beschäftigt, gelegentlich der ersten Studie des magyarischen Statistikus J. Körösy „ Die Slowakisirung Oberungarns “ (magy.), die er mir zugeschickt hatte. Da ich mich dem magyarischen Chauvinismus, der darin ausgesprochen war, entgegenstellte, so habe ich von dem Verfasser darüber in freundschaftlichster Weise nähere Aufklärung erhalten.“

3 Von Bertrand Auerbach ist ein Brief vom 13.11.1898 im Hugo Schuchardt Nachlass erhalten ( 00373).

4 Schuchardt kommentiert Auerbachs Buch Les races et les nationalités en Autriche-Hongriein seinem Artikel 'Zur Literatur über die Sprachenkämpfe I-II' in der Beilage zur Allgemeinen Zeit vgl. [Archiv-/Breviernummer: 325].

5 L. Lang. 1898. 'Les nationalités en Hongrie et en Autriche'. In: Revue politique et parlementaire, Band XVIII, Nummer 52, Oktober. Paris: Colin (vgl. in Gallica).

6 Hubert Welter war der Verleger der Publikation, wie aus Schuchardts Brief vom 31. Dezember 1898 (096-SG22) hervorgeht.

7 Schuchardt, Hugo. 1898. Tchèques et Allemands. Lettre de M. Hugo Schuchardt, Correspondant étranger de l'Institut de France à M. ***. Paris : Welter [Archiv-/Breviernummer: 324].

8 Als Reaktion auf diese Bemerkung schreibt Gaidoz im Brief vom 28. Dezember 1898 (095-03284) an Schuchardt: „j’ai pu rédiger un compte-rendu de votre brochure“.

9 Michail Nikolajewitsch Murawjow-Wilenski (1796-1866), russischer Staatsmann (Generalgouverneur im nordwestl. Kraj). Er trug wesentlich zur Niederschlagung der polnischen Aufstände in Weißrussland und Litauen 1830/31 und im nordwestl. Kraj 1863 bei. 1898 wurde in Vilnius vor dem Schloss, in dem er gewohnt hatte, ihm zu Ehren ein Denkmal aufgestellt. Der Rubrik „Telegramme des Correspondenz-Bureau“ in der Neuen Freien Presse (S. 8, Sp. 2) vom 18. November 1898 (Nr. 12299) ist zu entnehmen: „Der Minister des Auswärtigen Amtes, Graf Murawiew [Enkel Murawjows], hat sich zur Einweihung des Murawiew-Denkmals nach Wilna begeben.“ (Vgl. die Ausgabe in ANNO/Österreichische Nationalbibliothek abgerufen am 26.08.2021).

Faksimiles: Die Publikation der vorliegenden Materialien im „Hugo Schuchardt Archiv” erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Fondo Lacombe (Euskaltzaindia). (Sig. SG21)