Hugo Schuchardt an Henri Gaidoz (067-SG10)
von Hugo Schuchardt
an Henri Gaidoz
28. 08. 1894
Deutsch
Schlagwörter: La Nouvelle revue Schuchardt, Hugo (1894)
Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Henri Gaidoz (067-SG10). Herkulesbad, 28. 08. 1894. Hrsg. von Magdalena Rattey (2017). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.5222, abgerufen am 08. 09. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.5222.
Herkulesbad, 28 Aug. 1894.
Verehrter Herr und Freund,
Ich habe mir das Augustheft der Revue de Paris hierher kommen lassen um zu lesen was die Gräfin Almasy1 über Rumänen und Magyaren sagt. In Bezug auf die Thatsachen kann man ihr nicht Unrecht geben; nur in Bezug auf die aus denselben gezogenen Folgerungen und Forderungen (S. 635 f.). Die Analogie Ungarns mit andern Staaten in Hinsicht der Staatssprache ist keine ganz zutreffende - sie fühlt das selbst; die quantitativen Verhältnisse spielen allerdings eine Rolle, und der Kampf der Rumänen für ihre Sprache ist jedenfalls ebenso berechtigt als der der Vlamingen in Belgien für die ihrige. Zudem lag es so nahe Oestreich zu citiren; ich spreche nicht von den Polen und Tschechen wo die staatsrechtlichen Fragen hereinspielen, sondern von den Italienern und den Slowenen, denen die Pflege ihrer Nationalität in keiner Weise bestritten wird, deren Sprachen in staatlichen Schulen Unterrichtssprachen sind. Die Slowenen haben freilich noch nicht Alles erlangt was sie selbst |3| erlangen möchten; auch die Italiener werden nicht so leicht die gewünschte italienische Universität bekommen, aber da sind doch wesentlich andere Hindernisse als prinzipielle.
Sie sehen ich bin, was den Kern der Sache anlangt, mit Ihnen auf Seiten der Rumänen. Nun sind aber doch folgende Dinge zu beachten. Ein einheitlicher Staat braucht eine Staatssprache; deren Wirkungskreis kann meinetwegen sehr eingeschränkt sein, aber sie muss doch z.B. für das Parlament bestehen. Wie soll man sich denn gegenseitig verstehen wenn - wie das seit einiger Zeit begonnen hat - im Wiener Reichsrath mehr und mehr tschechische und kroatische Reden gehalten werden? Selbst eine Konfoederation, wie die Schweiz, verlangt ein einheitliches Verständigungsmittel. Wie liesse sich aber nun aus Oestreich und Ungarn eine nationale Konföderation machen? Dem Gedanken selbst bin ich nicht abhold (die Monarchie als solche könnte ja dabei bestehen bleiben); aber die Ausführung…..! Die Nationen gränzen sich ja keineswegs scharf und deutlich gegeneinander ab, sie wohnen zum großen Theil auf das Bunteste durcheinander. Überall würden sich aus diesem grossen nationalen Verwaltungsgebiet kleinere heteronationale Enklaven ausscheiden müssen, aus diesen noch kleinere und so fort. Es würde |4| geradezu unmöglich sein zu verhindern dass irgendwo Minoritäten von Majoritäten in nationaler Hinsicht bedrückt würden. Das ist eben die allergrösste Schwierigkeit; dass irgend eine Nation oder nationale Gruppe weder Hammer noch Amboss sei. Wo wir hinschauen, finden wir entweder das Eine oder das Andere. Man müsste das Problem des Nationalitätenstreites ganz im Allgemeinen behandeln, bis zu einem gewissen Grade zu lösen versuchen, ehe man an die Einzelprobleme heranträte. Ich glaube dass, soweit die Lebhaftigkeit der nationalen Empfindung gleich ist, die Nationen gleich gerecht oder ungerecht gegeneinander sind. Ich habe das in jener Schrift2 bei einer bestimmten Gelegenheit ausgesprochen, von der ich glaubte ich hätte sie Ihnen zugehen lassen (besonders da eine Stelle darin durch eine Äusserung von Ihnen hervorgerufen worden ist). Jetzt habe ich einen Freund in Graz beauftragt sie Ihnen zu schicken. Also ich bin auf das Festeste überzeugt dass nicht nur die Rumänen in der Lage der Magyaren gerade so handeln würden wie diese (vielleicht noch schlimmer) sondern z.B. auch die Franzosen. Sie scheinen meine Aeusserung missverstanden zu haben. Ich meine nur dass wenn Baskisch und Bretonisch wirklich als nationale Sprachen sich geltend zu machen beabsichtigten, die Franzosen mit der grössten Entschiedenheit sie unterdrücken würden. Das Slowenische|5| stand als durch das Deutsche stark beeinflusste Mischsprache oder vielmehr sehr differenzirte Patois (Mehrzahl!) bis vor Kurzem auf keiner höhern Stufe als das Bretonische; und nun bildet es sich mehr und mehr zu einer einheitlichen Litteratursprache aus.
Und wie kann man ganz von dem Recht der Geschichte absehen? Auf ihm beruht ja unsere ganze Staatenvertheilung. Und wollte man heute Europa nach nationalen Motiven neu vertheilen, so würden sich binnen Kurzem die Verhältnisse geändert haben und eine neue Abgränzung erfordern. Sehen Sie z.B. Böhmen an; da ist in einem Dorfe bald eine deutsche bald eine tschechische Majorität. Überall Fluctuationen!
Die Tschechen wollen nun nicht bloss innerhalb Oestreichs - also z.B. auch in Wien - Gleichberechtigung mit den andern Nationen, sie wollen in Böhmen, auf Grund des - Rechtes der Geschichte, die herrschende Nation sein. Die Analogie mit Ungarn trifft gar nicht zu. Das sogenannte böhmische Staatsrecht ist etwas ganz Veraltetes und Nebelhaftes. Schreiben Sie doch auch einmal über die tschechischen Prätensionen etwas in der Revue de Paris, da jetzt die Tschechen so grosse Freunde der Franzosen sind. Sagen Sie ihren Landsleuten doch dass dieselben Tschechen welche die deutsche Staatssprache für Oestreich als eine |6| schreiende Ungerechtigkeit betrachten, die tschechische Staatssprache für Böhmen als das selbstverständlichste Postulat betrachten. Oder noch besser, schreiben Sie doch über Russland das ja die (im medizinischen Sinne) schönsten Beispiele nationaler Unterdrückung liefert. - Ich bin immer geneigt gewesen, Frankreich als die Führerin in allen grossen civilisatorischen Dingen anzusehen, ich bin wahrlich kein deutscher Chauvinist. Diese fabelhafte προσκύνησις Frankreichs aber vor Russland, vor dem Zarenthum hat mir eine der allerherbsten Enttäuschungen bereitet; Frankreich hat damit seine ganze grosse Vergangenheit verläugnet, es hat damit mehr verloren als zwei Provinzen. Denn die Grösse einer Nation beruht nicht auf ihrer Ausbreitung sondern auf ihrem innern Gehalt. Nur die Gemeinschaftlichkeit des Hasses hat Frankreich mit Russland verbündet, und welchen Grund das russische Volk hat das deutsche zu hassen und ob es dasselbe wirklich hasst, darüber mag Sie Tolstoi belehren. Wie kann in französischer Sprache noch gegen irgend welche politischen Ungerechtigkeiten, ja Unmenschlichkeiten protestiert werden, nachdem in französischer Sprache das Zarenthum mit seiner Verfolgung fremder Nationalität und Religion und mit seinem Sibirien solche Apotheosen erfahren hat! - Muss es nicht einigermassen auch meine Sympathien für die Rumänen |7| abschwächen wenn ich gestern aus dem Munde eines feurigen Patrioten von Bukarest vernehme man sei bereit aus Hass gegen die Magyaren sich den Russen in die Arme zu werfen. Das erinnert mich an den tschechischen Ausspruch: lieber die russische Knute als das deutsche Szepter! Bis zu welchem Wärmegrad doch der nationale Fieberwahnsinn zu steigen vermag! Auch der Latinismus der Rumänen scheint mir in politischer Beziehung sehr übel angebracht. Ob sie von den Römern, diesen Unterdrückern par excellence abstammen oder nicht, ob sie in Siebenbürgen seit der Römerzeit ansässig oder (was mir immer noch das Wahrscheinlichere ist) erst im Mittelalter eingewandert sind, bleibt sich für die Auffassung der actuellen Verhältnisse ganz gleich. Und dass Mme J. Adam3 und so und so viel andere romanische Schriftsteller die vielleicht vor Kurzem das Rumänische noch für eine slawische Sprache gehalten haben, ihre Sympathien für die rumänische Sache in schwungvollen Phrasen aussprechen, scheint mir ganz werthlos. Ich werde das auch gelegentlich meinen rumänischen Freunden sagen, obwohl ich weiss wie leicht man einem Fanatiker gegenüber zum Ketzer wird.
Mit herzlichem Grusse
Ihr ergebenster
H. Schuchardt
In Ungarn würden Sie, was Bäder anlangt, schwerlich das finden was Sie suchen.
1 Wilhemine von Wickenburg-Almásy (1845-1890), deutsch-österreichische Dichterin, sie war verheiratet mit dem Dichter Albrecht Graf von Wickenburg. Unter dem Titel " Hongrois et Roumains " antwortete die Gräfin Almásy auf Gaidoz‘Artikel " Les Roumains de Hongrie " (erschien in Revue de Paris, Tome III, 1894) in Tome IV der Revue de Paris im Jahr 1894, 632-639. Ihr politisches Interesse bekundete sie bereits 1886 in dem Gedicht "Mahnruf an die Deutschen in Oesterreich".
2 Schuchardt, Hugo. 1894. “Weltsprache und Weltsprachen”. An Gustav Meyer von Hugo Schuchardt. Straßburg: Trübner. [Archiv-/Breviernummer: 279].
3 Juliette Adam (1836-1936), frz. Schriftstellerin und auch politische Schreiberin und Polemikerin. Im Sinne ihrer republikanischen Einstellung gründete sie 1879 die Zeitschrift La Nouvelle revue (1879-1940).
Faksimiles: Die Publikation der vorliegenden Materialien im „Hugo Schuchardt Archiv” erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Fondo Lacombe (Euskaltzaindia). (Sig. SG10)