Michael Haberlandt an Hugo Schuchardt (09-04304)

von Michael Haberlandt

an Hugo Schuchardt

Wien

10. 11. 1920

language Deutsch

Schlagwörter: Volkskundemuseum Wien Materielle Sammlung Baskologie Bittschreiben Kontaktvermittlung Kartographie Dialektologie und Sprachgeographie Ethnologie, Anthropologie, Volkskunde Universität Wien Verein für Volkskunde Phonogrammarchiv (Wien)language Baskisch Pöch, Rudolf Trebitsch, Rudolf Bonaparte, Louis-Lucien (1863) Hurch, Bernhard (2009) Hurch, Bernhard/Kerejeta, Maria Jose (1997)

Zitiervorschlag: Michael Haberlandt an Hugo Schuchardt (09-04304). Wien, 10. 11. 1920. Hrsg. von Elisabeth Egger und Kathrin Pallestrang (2017). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.5146, abgerufen am 12. 10. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.5146.

Printedition: Egger, Elisabeth; Pallestrang, Kathrin (2016): Affinités entre romanistes : lettres de Camille Chabaneau à Hugo Schuchardt. In: Grazer Linguistische Studien. Bd. 85., S. 25-56. http://unipub.uni-graz.at/gls/periodical/pageview/1572464.


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WIEN, 10. November 1920

SEHR GEEHRTER HERR HOFRAT !

Sieben Städte stritten um die Ehre der Geburtsort Homers zu sein: die Ihnen gleichzeitig durch Herrn Professor Pöch1 übersandte Karte2 scheint die Menschheit in ähnlicher Weise bewegen zu wollen, so vielseitig regen sich Wünsche um ihren Besitz. Als Verwalter der grössten und besten Baskensammlung Europas, die wir und die Basken der Bemühung des verstorbenen Dr. Rudolf Trebitsch3 verdanken und die in Kürze dank dem pietätvollen Verständnis der Familie des Verstorbenen der wissenschaftlichen Welt durch Schaustellung und Veröffentlichung zugänglich gemacht werden soll,4 würden wir, SEHR GEEHRTER HERR HOFRAT, Gewicht darauf legen, wenn die von Dr. Trebitsch persönlich mit Ortsnotizen5 versehene Karte Wien nicht entfremdet würde. Dürfen wir bei dem spanischen Eigentümer6 soviel weltbürgerliche Grossherzigkeit voraussetzen, dass wir ihm durch Sie allenfalls die Bitte übermitteln lassen können, sie zur Unterstützung unserer Schaustellung und wissenschaftlichen Benützung uns vorläufig zu belassen? Wir könnten dann hoffen, sie im Wege des anthropologisch-ethnographischen Institutes – nach beliebig langer Benützung durch Sie HOCHGEEHRTER HERR HOFRAT– etwa im März für diesen Zweck zugänglich zu haben.

In vorzüglichster Verehrung Ihr ergebener
Prof. DrMHaberlandt


1 Rudolf Pöch (1870-1921), Mediziner und Anthropologe, unternahm ab 1904 interdisziplinär angelegte Forschungsreisen mit Schwerpunkt auf physischer Anthropologie, bei denen er die neuesten Technologien für Bild-, Film- und Tondokumentationen einsetzte. 1913 erfolgte Pöchs Ernennung zum außerordentlichen Professor für Anthropologie und Ethnographie an der Universität Wien. Als früher Vertreter eines erbbiologischen Ansatzes führte er von 1915 bis 1918 anthropologische Untersuchungen in österreichisch-ungarischen und deutschen Kriegsgefangenenlagern durch. 1919 wurde Pöch zum ordentlichen Professor am neu gegründeten Institut für Anthropologie und Ethnographie ernannt, dessen Grundstock seine Sammlungen bildeten (vgl. Berner 2005 : 170-171; Lechleitner 2000 ; Szilvássy/Spindler/Kritscher 1980 ; für eine kritische Analyse der Untersuchungen an Kriegsgefangenen und "rassenkundlicher" Forschungsintentionen siehe Lange 2013 ; Berner 2005 ). 1920 wurde Pöch als Ausschussrat in die Vereinsleitung des Vereins für Volkskunde gewählt (vgl. Haberlandt M. 1921b : 27). Im Nachlass Schuchardts befindet sich eine Postkarte von Rudolf Pöch, die bereits veröffentlicht wurde. Pöch kündigte in diesem Schreiben an, dass er demnächst die baskische Dialektkarte an Hugo Schuchardt senden werde.

2 >Bonaparte, Luis-Lucien (1863). Carte des Sept Provinces Basques, montrant la délimitation actuelle de l’Euscara et sa division en dialectes, sous-dialectes et variétés. London: Stanford’s Geographical Establishment.

3 Rudolf Trebitsch (1876-1918), Mediziner und Ethnologe, unternahm – finanziell abgesichert durch die Erbschaften nach seinem Onkel Sigmund (1904 verstorben) und seinem Vater Leopold (1906 verstorben) sowie durch eine Teilhaberschaft als Kommanditist an der familieneigenen Seidenweberei S. Trebitsch & Sohn – mehrere Forschungs- und Sammelreisen: 1906 nach Westgrönland, 1907 und 1909 in die keltischen "Reliktgebiete", nach Irland, Schottland, Wales und die Isle of Man bzw. 1908 in die Bretagne und 1913 ins Baskenland, von denen er im Auftrag des Phonogrammarchivs insgesamt 262 Phonogramme mit Sprach- und Musikaufnahmen mitbrachte. Trebitsch wurde 1911 Mitglied des Vereins für österreichische Volkskunde und ab 1914 Ausschussratsmitglied. Ab 1912 trat er als Mäzen in Erscheinung, der durch großzügige Spenden und das Anwerben weiterer Großspender wesentlich zum finanziellen Überleben von Verein und Museum beitrug und den Ankauf größerer Sammlungen ermöglichte (vgl. Liebl 2015 ; Hurch 2009a: 5-10; Nikitsch 2005 ; Lechleitner/Remmer 2003 ). Im Nachlass Schuchardts befindet sich die Korrespondenz von Rudolf Trebitsch, die bereits veröffentlicht wurde (Hurch 2009a).

4 Die baskische Sammlung war ab 1921 im Erdgeschoß des Museums im Raum 23 ausgestellt und wird im Museumsführer von 1921 als "Volkskunde der Basken. Dr. Rudolf Trebitsch-Sammlung" bezeichnet ( Haberlandt M. 1921a : 43). Anlässlich einer Gedenkfeier für Rudolf Trebitsch am 16. Juni 1920 war beschlossen worden, dass die baskische Sammlung für immerwährende Zeiten den Namen "Dr. Rudolf Trebitsch-Sammlung" führen soll ( Haberlandt M. 1921b : 26).

5  Die Dialektkarte enthält keine handschriftlichen Hinweise; Rudolf Trebitsch versah lediglich die Orte, die er bereiste und in denen er ethnographische Erwerbungen sowie phonographische Aufnahmen durchführte, mit Unterstreichungen und kreisförmigen Markierungen.

6 Eigentümer der baskischen Dialektkarte war Julio de Urquijo, der diese Karte Rudolf Trebitsch offenbar bereits während dessen Sammelreise durch das Baskenland vom 18. Juli bis 8. September 1913 zur Verfügung gestellt hatte. Trebitsch nahm die Karte zur weiteren Bearbeitung seiner phonographischen Aufnahmen und Objekterwerbungen mit nach Wien. Nach seinem Tod am 9. Oktober 1918 ging seine wissenschaftliche Bibliothek und somit auch die Dialektkarte testamentarisch an Rudolf Pöch über, der die Karte offenbar der Bibliothek des anthropologisch-ethnographischen Instituts übergab, wo sie am 1. Oktober 1919 von Leo Bouchal gesehen wurde (vgl. B 01270). Urquijo versuchte ab August 1919 (vgl. B 12180 vom 25. August 1919, siehe Hurch/Kerejeta 1997) durch Vermittlung Schuchardts den Verbleib der Dialektkarte zu klären bzw. sie wieder zurückzubekommen. Schuchardt wiederum bat diverse Kontaktpersonen in Wien diesbezüglich um Aufklärung. In folgenden Korrespondenzstücken im Nachlass Schuchardts spielt die baskische Dialektkarte eine Rolle: Julio de Urquijo (B 12180, B 12181, B 12189, B 12192, siehe Hurch/Kerejeta 1997), Leo Bouchal (B 01269, B 01270, B 01272), Rudolf Pöch (B 08887), Hella Pöch (B 08888).

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 04304)