Karl Luick an Hugo Schuchardt (37-06700)
von Karl Luick
an Hugo Schuchardt
08. 11. 1913
Deutsch
Schlagwörter: Zwierzina, Konrad Meyer-Lübke, Wilhelm Ettmayer, Karl von
Zitiervorschlag: Karl Luick an Hugo Schuchardt (37-06700). Wien, 08. 11. 1913. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2017). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.5075, abgerufen am 28. 09. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.5075.
Wien 19/1 Gatterburgg. 6
8. Nov. 1913
Verehrter Freund,
Die peinliche Szene, die sich am vorigen Sonntag im Hause Zwierzina1 zwischen uns abgespielt hat, ist mir sehr nahegegangen. Das flüchtige Gespräch der Aufklärung, das Du anfügtest, hat nur so viel ergeben, dass der Grund, u. z. der einzige Grund, für Dein Verhalten meine Bemerkung sei, Du hättest Dich seiner Zeit in der bewussten Angelegenheit ,zu weit vorgewagt‘. In einem Gespräch mit Zwierzina erfuhr ich, dass Du auch ihm gegenüber Dich über diese Wendung beklagt hast, ferner darüber, dass ich Deinen damaligen Worten nicht recht Glauben geschenkt hätte – was mich in eben so |2| grosses Erstaunen versetzte wie Dein Vorwurf.
Ich habe nun unsere Korrespondenz vom März und April 1912 vorgenommen – und auch meine Briefe, da ich die Gewohnheit habe, von wichtigeren vorher ein stenographisches Konzept zu machen. Danach muss ich nach wie vor bezweifeln, dass ich den von Dir beanstandeten Ausdruck gebraucht habe.
Am 29. März ersuchtest Du mich, Deine Darstellung des Hergangs in der Berufungsangelegenheit E. der hier im Umlauf befindlichen gegenüberzustellen und diese zu berichtigen, namentlich Meyer-Lübke gegenüber. „Du brauchst nur gelegentlich auf einer Kart mitzuteilen, dass Du diese meine Bitte erfüllt hast, das Weitere braucht Dich nicht zu kümmern“. |3| Ich muss gestehen, dass mich diese Wendung verdross. Ich sollte also nur ganz unpersönlich als Sprachrohr oder Briefträger dienen: welche Auffassung ich von der Sache hätte, danach hast Du nicht gefragt. Wenn in meinen Briefen eine gewisse Gereiztheit des Tones zu Tage trat, so hängt dies damit zusammen.
Nachdem wir zwei weitere für die Hauptsache unwesentliche Briefe gewechselt hatten, kam es zu einer Unterredung zwischen Meyer-Lübke und mir und in meinem Brief vom 20 Apr. teilte ich Dir seine Äusserungen mit. „Die Korrektheit Deines Vorgehens käme nicht in Frage. Er finde aber Dein Verhalten nicht ganz konsequent. Da Du einmal zu Anfang einen Schritt getan hattest, welcher in E. die grössten Hoffnungen erregen musste (Deine ausdrückliche Bitte an Sch.2, ihm Deine Worte |4| mitzuteilen, bedeute Deine spätere kühle Korrektheit eine gewisse Inkonsequenz“. Im weiteren Verlauf bemerkte ich, dass ich mich doch nicht mit der Rolle eines Briefträgers begnügen und nicht umhin könne, der Ansicht M.-L.‘s beizupflichten. Also nichts von „zu weit vorwagen“.
Auf diesen entscheidenden Brief folgten noch zwei von Dir, vom 22. und 24. April, zwischen denen einer von mir liegt, von dem ich kein Konzept habe. Dass ich aber auch darin nicht jenen Ausdruck gebrauche, schliesse ich aus dem Umstand, dass Du Dich in Deinen Briefen immer nur gegen den Ausdruck ,Inkonsequenz‘ wendest.
Nach all dem muss ich an Deinen Gerechtigkeitssinn appellieren |5| und Dich bitten, meine Briefe, wenn Du sie noch hast, nachzusehen und festzustellen, ob Dir nicht ein Irrtum unterlaufen ist. Meine Erinnerung und was noch vorliegt, drängt mich zu dieser Annahme.
Aber – nehmen wir an, ich hätte tatsächlich jenen Ausdruck gebraucht. In Deinem letzten Brief (vom 24. April) ersuchtst Du mich, auf die Sache nicht weiter zurückzukommen, und ich habe Deinen Wunsch respektiert und nicht weiter geschrieben. Dieser letzte Brief von Dir beginnt ebenso wie Deine früheren mit den Worten ,Lieber Freund‘ und schliesst mit der Wendung ,Mit herzlichen Grüssen Dein H. Schuchardt‘. Vor dieser Schlussformel bemerkst Du: „Das Beste wäre es vielleicht, unseren ganzen Briefwechsel wie ein Blatt aus dem Buche unserer freundschaftlichen Beziehungen heraus- |6| zureissen“ – was doch die Vorstellung in sich schliesst, dass unsere freundschaftlichen Beziehungen noch weiter dauern. Jedenfalls kann eine solche Wendung derjenige nicht brauchen, welcher frühere freundschaftliche Beziehungen als abgebrochen erachtet, so gründlich abgebrochen, dass er mit dem früheren Freund auch nicht die gewöhnlichen Verkehrsformen aufrecht erhalten kann. Und nun, da wir uns ein ein halb Jahre später zum ersten Mal wieder sehen, erklärst Du mir vor Zeugen, Du wüsstest nicht, ob Du mir die Hand geben könntest, Du trittst mir in einer Weise entgegen, die hart an die Grenze einer Beschimpfung streift, die eigentlich einen Augenblick tatsächlich eine Beschimpfung war und nur dadurch ein anderes Aussehen erhielt, dass Du noch rechtzeitig das Ganze in’s Scherzhafte |7| wandtest. Wie sind Deine schriftlichen Äusserungen von damals mit Deinem Verhalten von heute zu vereinbaren? Wenn ich wirklich jenen ominösen Ausdruck gebraucht habe und er Dir so schwerwiegend erscheint (was ich nicht verstehe) – warum hast Du in Deinen Briefen so gar nichts davon merken lassen? Was ist in der Zwischenzeit vorgefallen, um Deine Stimmung gegen mich so zu verändern? Hätte ich nur die geringste Ahnung gehabt und haben können, wie Du über mich denkst, so würde ich einer Begegnung vor Zeugen ausgewichen sein und eine Unterredung zur Aufklärung gesucht haben.
Nach all dem muss ich sagen: Du hast mir bitteres Unrecht zugefügt und da Du in der Zwischenzeit über mich Ahnungslosen wohl auch anderen Grazer Kollegen (nicht bloss Zwierzina) |8| gegenüber Dich beklagt haben wirst, so haben vermutlich eine ganze Reihe von Menschen, auf deren Meinung ich Wert lege, eine ganz falsche Auffassung von mir bekommen. Wahrscheinlich erklären sich daraus mir bisher ganz rätselhafte Andeutungen, ich sei auch vom Wiener Hochmut erfasst worden u. dgl. Ich sehe mich gezwungen, mich zu bemühen, dieser falschen Meinung entgegenzutreten wofern Du es nicht selbst tust. Ich sehe Deinen Äusserungen in begreiflicher Spannung entgegen.
Mit herzlichen Grüssen
Dein
K. Luick
1 Konrad Ziwierzina (1864-1941), Germanist, 1898 Privatdozent in Graz, 1912 nach Stationen in Fribourg und Innsbruck Grazer Ordinarius.