Karl Luick an Hugo Schuchardt (01-06672)
von Karl Luick
an Hugo Schuchardt
08. 12. 1897
Deutsch
Schlagwörter: Dänisch Französisch Englisch Schönbach, Anton Christmann, Hans Helmut (1985) Schuchardt, Hugo (1897)
Zitiervorschlag: Karl Luick an Hugo Schuchardt (01-06672). Graz, 08. 12. 1897. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2017). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.5032, abgerufen am 09. 09. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.5032.
Graz, Waringerg. 3, 8. Dez. 1897
Sehr geehrter Herr Professor,
Unser Gespräch1 ist heute zu einem plötzlichen Abbruch gekommen. Ich habe mir den berührten Gegenstand noch einmal überdacht und möchte Ihnen einen Vorschlag machen: wie wäre es, wenn wir das holl. Wörterbuch2gemeinsam zur Anschaffung vorschlügen? Damit käme wol gut zum Ausdruck, dass es ein allgemeines Bedürfnis ist, nicht das einer einzelnen Lehrkanzel, und aus diesem Gesichtspunkt würde ich diesen Modus einer von mir allein ausgehenden Anregung vorziehen. Vielleicht wäre es das Allerbeste, wenn auch Schönbach3 seinen |2| Namen dazu setzte. Ich bitte also, wenn Sie auf meinen Vorschlag eingehen, mir nur zu schreiben, wann wir uns auf der Bibliothek treffen könnten. Ich glaube auch, dass ein solcher Vorschlag bei der Bibliotheksleitung mehr Erfolg haben wird, als wenn ich allein einen Antrag stelle, der über mein eigentliches Fach hinausgeht.
Bei der Gelegenheit möchte ich gleich noch etwas zu unserem Gespräch nachtragen. Sie waren verwundert, dass ich nicht Dänisch, Friesich u. dgl. treibe. Ich habe schon meine persönliche Grenze dargelegt, und ich möchte nur noch hinzufügen, dass auch die Bedürfnisse des Faches in die Richtung weisen, die ich getrieben habe. Es wird so |3| häufig vergessen, dass die Anglistik eine ganz junge Wissenschaft ist und daher naturgemäss noch nicht so entwickelt sein kann, wie ihre älteren Schwestern. Die ersten Lehrkanzeln wurden vor kaum 25 Jahren gegründet4, und da galt es zunächst das Material zugänglich zu machen, also die wichtigen Texte zu publicieren. Damit sind wir heute noch nicht fertig. Mit den eigentlichen Dingen stehen wir darum noch ganz im Anfang, wie am besten daraus hervorgeht, dass voriges Jahr die erste mittelenglische Grammatik erschien5 und die erst zur Hälfte. Wir müssen erst die einfachsten klarsten Beziehungen zu erfassen suchen, also vor allem die Grundlinien der Lautgeschichte |4| festlegen. Wie viel da noch zu machen ist, zeigt am besten der Umstand, dass ich allein wol ein halbes Dutzend ,Lautgesetze‘ aufgestellt habe, die wesentlich neu waren.6 Alles Vereinzelte, Besondere müssen wir häufig noch bei Seite schieben, bis wir festen Boden unter unseren Füssen geschaffen haben. Sie haben unlängst einmal bemerkt, wenn man auf’s Englische komme, sei immer alles noch ,dunkel‘. Ja, gewiss, und auch gewiss nicht. Wenn Sie auf’s Englische kommen, dann sind es meist schwierige Etymologien7 und an die können wir uns erst machen, wenn wir die Lautgeschichte entsprechend ausgebaut haben.
Und um dies thun zu können, |5| ist es vor allem nötig, das Gemeingermanische zu beherrschen. Von den verwandten Sprachen kommen vor Allem das Altfriesische und das Altsächsische in Betracht, über die ich auch glaube genügend Auskunft geben zu können. Die neueren Stufen dieser Sprachen kommen nur insofern in Betracht, als sie auf die alten Stufen Licht werfen: da muss aber doch schon der Germanist eingreifen. Jedenfalls wird man sagen dürfen, dass neuenglische Dialekte für den Anglisten wichtiger sind als neufriesische oder niederdeutsche (immer vorausgesetzt, dass es sich um Lautgeschichte handelt!) Das Dänische aber wie die anderen ostgermanischen Dialekte liegen schon weiter ab; |6| sie kommen nur bei den Lehnwörtern in Betracht, da freilich sehr; aber wieder muss für die Beurtheilung der Lehnwörter vor allem die Entwicklung des Erbmaterials erst festgestellt sein, in den Grundzügen. Jedenfalls bilden die Lehnwörter ein eigenes Kapitel, dass [sic] man bei anderen Arbeiten sehr wol zunächst bei Seite lassen kann. Ich habe ja einmal Dänisch angefangen und ich würde es sehr gern weitertreiben. Aber ich habe gesehen, dass wir zunächst viel dringender intern-englische Aufgaben habenx (x als Richtung gebende Parallele im Allgemeinen dient die deutsche Sprachentwicklung, so dass der Anglist nie in einer germanischen Sprache versinkt). Wir müssen uns eben erst um Dinge bemühen, über die Sie in der Romanistik längst hinaus |7| sind. Das kommt aber daher, weil wir noch so jung sind. Man hört so häufig klagen, daß wir Anglisten einen so engen Horizont hätten. Aber dabei vergisst man, dass wir uns erst in unserem Haus wohnlich einrichten müssen, bevor wir weite Flüge unternehmen.
Ich persönlich werde auch freilich in den nächsten Jahren schwerlich zu höheren linguistischen Aufgaben kommen. Ich möchte mich zunächst mehr literarhistorischen Studien, namentlich auf dem neueren Gebiet, zuwenden; das ist ja auch ein beliebter Vorwurf gegen die Anglisten, dass sie über Beowulf und Chaucer Pope und Coleridge und Byron u.s.w. vergessen.
|8| Doch verzeihen Sie, dass ich Sie mit einer so langen Epistel behellige, die dazu noch in ihrer Flüchtigkeit Ihrer Entzifferungskunst schwere Aufgaben stellt. Ich habe schon lange gewünscht, Ihnen gegenüber meinen Standpunkt näher darzulegen, damit Sie uns Anglisten richtiger beurtheilen. –
Mit den besten Grüssen
Ihr ergebener
K. Luick
1 Luick war seit dem SS 1891 Grazer Privatdozent und seit dem 29.3.1893 ao. Prof. Daher dürfte er schon einige Zeit vor diesem ersten erhaltenen Brief Kontakt zu Schuchardt gehabt haben, der jedoch vielleicht nur mündlich war. Ab jetzt (8.12.1897) setzt eine regelmäßige Korrespondenz ein, die wegen zahlreicher Antworten auf wissenschaftlicher Anfragen Schuchardts nötig wurde, auch wenn sich beide in Graz befanden.
2 Möglicherweise A. H. L. Badings, Neues Wörterbuch der Deutschen, malaischen und holländischen Sprache, Amsterdam 1890.
3 Anton Emanuel Schönbach (1848-1911), seit 1876 germanistischer Ordinarius in Graz.
4 Hans Helmut Christmann, Romanistik und Anglistik an der deutschen Universität im 19. Jahrhundert. Ihre Herausbildung als Fächer und ihr Verhältnis zu Germanistik und klassischer Philologie, Mainz-Stuttgart 1985, 24, nennt die folgenden Daten, wobei es sich meist um Doppelprofessuren für Französisch und Englisch handelt: Göttingen 1852, Bonn 1855, Marburg 1856, Leipzig 1862, Greifswald 1866, Wien 1872.
5 Lorenz Morsbach, Mittelenglische Grammatik, Halle a.S. 1896. Morsbach baute allerdings auf einem anderen Werk auf: Franz Heinrich (Francis Henry) Stratmann, Mittelenglische Grammatik, Köln 1885. Stratmann (1822-1884) war eigentlich Kaufmann und hatte sich im Selbstunterricht zum erfolgreichen Sprachlehrer herangebildet.
6 S.o. den Sammelband Luick revisited, 1988.
7 Schuchardt, „Romanische Etymologieen“, Sitzungsberichte der philosophisch-historischen Classe der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, Wien 1897, 138, 1–82, hier 61f.