Fritz Neumann an Hugo Schuchardt (10-07768)

von Fritz Neumann

an Hugo Schuchardt

Freiburg im Breisgau

12. 01. 1886

language Deutsch

Schlagwörter: Rezension Lautgesetze Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze Erwiderung Wissenschaftliche Diskussionen und Kontroversenlanguage Langue bleue (Bolak) Gröber, Gustav Paul, Hermann Osthoff, Hermann Wackernagel, Jakob Paul, Hermann (1886) Mücke, Johannes (2015) Schuchardt, Hugo (1886)

Zitiervorschlag: Fritz Neumann an Hugo Schuchardt (10-07768). Freiburg im Breisgau, 12. 01. 1886. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2016). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.4897, abgerufen am 28. 11. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.4897.


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Freiburg i/B. Albertstr. 24
12.1.86.

Lieber Freund!

In Eile (vor mir liegen 3 Bogen letzter Correctur der Januarnummer, 1½ Bogen Correctur des Registers, alles noch heute zu erledigen) wenigstens ein paar Zeilen auf Ihre freundlichen Zeilen. Nehmen Sie zuvörderst die Versicherung meinerseits, daß auch für mich wissenschaftliche Differenzen nie im Stande sind, freundschaftliche Beziehungen zu stören. Sehr leid thut mir, daß der Schlußpassus von Pauls Rezension Sie verletzt hat. Mir kam er wirklich nicht so bös gemeint vor. Mir lag sogar ein verstecktes großes Lob für Sie in seinen Zeilen, nämlich „Nicht jeder besitzt Genie und Tact in so hohem Maße |2| wie Sie um sich diesen beiden Führerinnen allein anvertrauen zu können. Für solche Sterbliche sind strengere methodologische Normen daher eine Notwendigkeit“.1

Was Gröber anlangt, so habe ich ihn stets so verstanden, daß er im Sinne Pauls (NB!) wohl an Lautgesetze glaubt, wenn er es auch vorzieht, von Lautregeln zu sprechen, um der allerdings falschen (von Paul nie getheilten) Auffassung des Wortes Lautgesetz im Sinne von Naturgesetz vorzubeugen. Lässt er doch Zuhörer Untersuchungen anstellen (vgl. Köritz, Skons)2, die den Zweck haben, die Allgemeingültigkeit einer Lautregel (doch wohl nichts anders als unser „Ausnahmslosigkeit eines Lautgesetzes“, eines von Pauls Principien!) zu beweisen! Für gewisse Extravaganzen, wie sie z.B. Osthoff3 häufig begeht, dürfen Sie doch nicht uns andere |3| mitverantwortlich machen, am allerwenigsten für das, was Osthoff außerwissenschaftlich schreibt, denkt und thut. Ich für meine Person muß es wenigstens entschieden zurückweisen, wenn Sie auf Ihrer Karte schreiben: „Sie dürfen freilich nicht so denken wie Osthoff der u.s.w.“ Zu dem, wie Osthoff außerwissenschaftlich denkt und handelt, befinde ich mich zumeist im schroffsten Gegensatz (was, nebenbei bemerkt und unter uns, schon einmal zu einem mehrjährigen Bruch zwischen uns geführt hatte). Übrigens habe ich bei seinem Hiersein neulich Weihnachten zu meiner Freude constatirt, daß er ruhiger maßvoller geworden ist. Wie lange es dauert, weiß ich nicht. Auch wissenschaftl. maßvoller: so schien er in seinem frühern Glauben z.B. an Ausnahmlosigkeit von Methatesis [sic] u. a. dgl. Erscheinungen (an deren Ausnahmslosigkeit Paul u. ich zB. |4| nie geglaubt haben) erschüttert zu sein.

Wackernagels4 Äußerung, die bei Ihnen und andern Anstoß erregt hat, finde ich nicht hart: sie ist geschrieben für die wissenschaftl. Welt, nicht für Curtius-Angehörige, und jener gegenüber muß auch selbst in Ausführungen über einen Todten der vollen Wahrheit Raum gegeben werden. Ich kann mir vorstellen, daß es Wackernagel selbst, dieser lauteren, engelsguten und gradezu kindlichen Seele, am allerschwersten geworden ist, jene Worte schreiben zu müssen. Übrigens hat Wackern. (nebenbei) zu keinem der sog. Junggrammatiker persönliche Beziehungen.

Ihre Replik ist mir natürlich willkommen5; mir ist nichts lieber, als daß eine lebhafte Discussion zur Klärung der Sache beitrage. Schicken Sie sobald als möglich.

In herzlicher Freundschaft

Ihr

F. Neumann


1 Dieser Text findet sich nicht am Ende von Pauls Rezension. Dort heißt es vielmehr: „Man merkt deutlich, der Verf. mag nicht gern durch scharfe Bestimmungen, durch methodologische Grundsätze beschränkt sein; er will auch in der Wissenschaft seine Gedanken beliebig spazieren führen dürfen. Genie und Takt sollen alles entscheiden“ (Hermann Paul, Literaturblatt für germanische und romanische Philologie 7, 1886, 1-6. Zum Kontext vgl. wiederum Mücke (Anm. 21).

2 Wilhelm Koeritz, Ueber das s vor Consonant im Französischen, Strassburg 1885.

3 Hermann Osthoff (1847-1909), Sprachwissenschaftler, einer der maßgeblichen Junggrammatiker, Verf. zahlreicher Standardwerke.

4 Jakob Wackernagel (1853-1938), Klass. Philologe, mit dem Schuchardt korrespondierte (HSA, Lfd.Nr. 12568-12573). Um welche „Äußerung“ es sich handelt, bleibt unklar. Vgl. aber Bernfried Schlerath, „ Jacob Wackernagel und die indogermanische Sprachwissenschaft “, in: Sprachwissenschaft und Philologie. Jacob Wackernagel und die Indogermanistik heute. Kolloquium der indogermanischen Gesellschaft vom 13. Bis 15. Oktober 1988 in Basel. Hrsg. von Heiner Eichner u. Helmut Rix, Wiesbaden 1990, 10-32.

5 Schuchardt, „ Erwiderung [gegen Paul in der Frage der Lautgesetze]“, Literaturblatt für germ. u. rom. Philologie 7, 1886, 80-83

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