Graz, Elisabethstr. 6, 25 Juni '03
Verehrtester Herr Kollege,
Vor zwei Jahren war ich nicht in Wien, im vorigen Jahre konnte ich mich mit Ihnen, der gerade von der Reise zurückgekommen war, kaum begrüssen, heuer waren Sie leider durch eine hoffentlich längst verschmerzte Influenza verhindert den akademischen Wahl- und Esspflichten zu genügen, und so weiss ich denn nicht ob ich mich noch des Wohlwollens erfreue das Sie mir einst zu teil werden liessen. Sie dürfen sich über den Mangel an Selbstvertrauen bei mir nicht verwundern; ich habe erfahren dass man in Ungnade fallen kann, ohne zu wissen wie und warum, und es ist gerade eine solche Angelegenheit in der ich Sie um Ihren Rat und Ihre Hülfe angehen möchte, falls nicht eben auch Sie mir nicht mehr gewogen sind.
Vor einigen Jahren stand ich mit K. Salemann in
Petersburg im Briefwechsel, er antwortete mir immer in liebenswürdiger, entgegenkommender Weise, schickte mir auch eine Hs. nach Graz und ich bedankte mich pflichtschuldigst. Nun ersuchte ich ihn im Frühjahr vorigen Jahres, er möge mir doch eine Hs. des Asiat. Museums schicken, die er mir seinerzeit zur Verfügung gestellt hatte, und zwar wo möglich noch im Laufe des Sommers da ich im Winter nach Ägypten zu reisen gedächte. Ich erhielt keine Antwort, bat daher L. v. Schroeder
Leopold von Schroeder (1851-1920), deutschbaltischer Indologe, ordentlicher Professor für altindische Philologie und Altertumskunde an der [
Universität Wien](https://gams.uni-graz.at/o:hsa.subjects#S.3934)., deswegen auf dem Hamburger Orientalistenkongress zu interpellieren. Er tat dies, aus der Mitteilung die er mir davon machte, konnte ich zwar den Sachverhalt nicht deutlich erkennen, aber doch so viel dass es sich nicht um Persönliches handle. Wiederum schrieb ich an S., wiederum keine Antwort. In einem Brief an V. Rosen
Viktor Romanovič Rosen (1849 - 1908), russischer Orientalist.
der mir Orientalistisches geschickt hatte, erwähnte ich die Sache, er erwiderte, es müsste ein Missverständnis vorliegen – aber das wurde auch jetzt nicht aufgeklärt. Im April schickte ich an S. einen rekomm. Brief, in dem ich einfach meine Bitte wiederholte; ich würde Mitte Mai wieder in Graz sein, und hoffte dann die Hs. zu bekommen. Es erfolgte keine Kundgebung. Das war mir so merkwürdig dass ich Anfang dieses Monats an
Radloff schrieb, den ich selbst gar nicht kenne, von dem ich aber gehört hatte dass er mit S. auf sehr vertrautem Fuss steht; ich bat ihn nur darum, mir irgendeine Aufklärung in dieser Angelegenheit zu verschaffen. Auch er hat geschwiegen und jetzt wo doch Alles schon von Petersburg in Sommerfrischen und Bäder verduftet ist, darf ich wohl von ihm keine Antwort mehr erwarten, so wenig wie von S.
Die Hs. ist nun für mich ganz in den Hintergrund getreten. Sie ist übrigens durchaus kein Κεϲμýλινς - die Georgische Grammatik eines Tifliser Professors, nicht druckfähig, mir wegen des darin enthaltenen Materials wertvoll. Ich müsste vorkommenden Falls erwähnen dass diese als zugänglich geltende Hs. mir nicht zugänglich gewesen ist. Ich verstehe übrigens nicht wie S., da ich mich doch nicht an ihn als Privatperson gewendet habe, mir jede Antwort vorenthalten kann. Ich muss nun annehmen dass er mir irgend Etwas übelgenommen hat; das würde mir auf jeden Fall leid tun, da ich ihm verpflichtet bin, aber ich habe keine Ahnung was es sein könnte, und ich glaube ein Anrecht auf irgendeine Erklärung steht mir doch zu. Nil tam difficile est, quid quærendo investigari non possit, sagt Freud. Nun in der Wissenschaft trifft das nicht immer zu, aber in solchen Privatangelegenheiten doch? Könnten Sie mir irgendwie zur Erreichung des beschriebenen Zieles verhelfen? Ich würde Ihnen dafür ausserordentlich dankbar sein.
In Verehrung und Ergebenheit
Ihr
H Schuchardt
Ich habe kürzlich
Štrekeljs Aufsatz über die Lehnwörter im Archiv im Bürstenabzug gelesen; er hat meistens Recht, nur ist
pistola u.s.w. ohne jeden Zweifel romanisch – ich habe ihm das schriftlich auseinandergesetzt – und so die lange Anmerkung zu Anfang hinfällig.