Hugo Schuchardt an Vatroslav Ignaz Jagič (62-s.n.)

von Hugo Schuchardt

an Vatroslav Ignaz Jagič

Graz

04. 06. 1900

language Deutsch

Schlagwörter: Universitätsbibliothek Grazlanguage Spanisch Miklosich, Franz von Asbóth, Oszkar Jankó, Johann (1900)

Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Vatroslav Ignaz Jagič (62-s.n.). Graz, 04. 06. 1900. Hrsg. von Claudia Mayr und Helena Reimann (2022). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.4864, abgerufen am 28. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.4864.


|1|

Graz 4 Juni 1900

Verehrter Herr Kollege,

Sie glaubten mich los zu sein, aber da bin ich wieder, immer noch etwas übernächtig nach dem Wiener Nachtleben, dessen unmittelbare Folgen ich den Augen Ihrer liebenswürdigen Frau Schwägerin (in Semmering) kaum verbergen konnte, wobei ich aber Ihre Ausdauer zu rühmen wusste.

Indem ich mich auf Janko1's Buch über den Ursprung der magyarischen Fischerei 2als eben aus dem Ei gekrochener Ethnograph |2| hermachte, war ich mit den besten Hoffnungen erfüllt. Die Linguistik hatte ich abgeschüttelt und durch Sachkenntnisse in der neuen Wissenschaft war meine Intelligenz noch kaum getrübt, so meinte ich denn in grösster Frische meine Wanderung antreten zu können. Da stehe ich wieder vor einem grossen historisch-linguistischen Sumpf und kann nicht hinüber. Ich will nicht jenen Italiener nachahmen der mich neulich um die “Litteratur” über Analogie in sprachwissenschaftlicher und philosophischen Hinsicht ersuchte, noch jenen Spanier der mich vor längerer Zeit bat, ich möchte ihm das Wesenthliche aus Miklosich's Arbeiten über die Zigeuner ins |3|Spanische übersetzen; es werden sich ja nächstens die Pforten unserer Universitätsbibliothek und somit für mich auch die des Archivs wieder öffnen (worin wohl die Polemik Ásbóths gegen Munkácsi3 berücksichtigt worden ist). Ich möchte nur Ihre in einem Halbdutzend Zeilen auszudrückende persönliche Ansicht darüber erfahren, ob denn im 8. und 9. Jahrh. zwischen Don und Dnjepr kleinrussische, zwischen Dnjepr und Donau slawische = bulgarische Bevölkerung wirklich sesshaft gewesen ist und zwar in so beträchtlichen Mengen dass die die dort vorübergehend weilenden Magyaren sprachlich beein |4| flussen konnten.

Auf die angedeuteten russischen Bücher verzichte ich nachdem ich gelesen was Jankó alles durchgemacht um dieselben zu erlangen, beziehungsweise nicht zu erlangen. Das gehört einfach in die Romanlitteratur.

Mit verbindlichstem Gruss

Ihr ganz ergebener

Hugo Schuchardt


1 János Jankó (1868–1902), ungarischer Geograph, Ethnograph. Siehe auch Volkskundemuseum (abgerufen am 29. 07. 2016).

2 J. Jankó, Herkunft der magyarischen Fischerei. Mit einem vorläufigen Bericht des Grafen Eugen Zichy, Budapest, 1900.

3 Bernát Munkácsi (1860–1937), ungarischer Linguist, Ethnograph und Pädagoge, früher Vertreter der vergleichenden Sprachwissenschaften (u. A. Reisen nach Westsibiren, an die Wolga und in die Moldau). Siehe auch ÖBL.

Faksimiles: Die Publikation der vorliegenden Materialien im „Hugo Schuchardt Archiv” erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Universitätsbibliothek Zagreb. (Sig. s.n.)