Hugo Schuchardt an Vatroslav Ignaz Jagič (61-s.n.)

von Hugo Schuchardt

an Vatroslav Ignaz Jagič

Graz

11. 01. 1900

language Deutsch

Schlagwörter: Universität Wien Universität Graz Tiflis Wien

Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Vatroslav Ignaz Jagič (61-s.n.). Graz, 11. 01. 1900. Hrsg. von Claudia Mayr und Helena Reimann (2022). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.4863, abgerufen am 28. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.4863.


|1|

Graz 11 Jänner 00.

Verehrter Herr Kollege,

In dem eben mir direkt aus Tiflis zugegangenen XXVI Bd. (eig. Lieferung: вѣпускъ) des Сборникъ матеріаловъ для описания мѣстностей и племенъ Кавказа ) findet sich Theil III, 79-118 eine Abhandlung, die die Slawisten interessieren dürfte, ihnen aber vielleicht zunächst entgeht, da dieses Archiv dort durchaus nichts Slawistisches enthält, nämlich: Нѣкoторѣя особенности живого говора города Ейска, Кубанской области. Von Michael Charlamow. 1 Derselbe hatte über diesen Gegenstand schon in den Фил.Зай. von 1898 einen kurzen Artikel geschrieben, die vorliegende Arbeit ist eine Umarbeitung davon въ долѣе подробную по измѣнненому плану. Ich würde trotz des angegebenen Um= |2| standes nicht gewagt haben Sie darauf aufmerksam zu machen, wenn ich nicht nebenbei den Wunsch hätte dass jemand sich mit diesem Sprachmischungsproblem näher beschäftigte, uns über die verschiedenen Quellen und deren Vermischung in der Sprachweise der erst 1848 gegründeten und jetzt fast 40 000 Einwohner zählenden Stadt Jeisk genaue Auskunft gäbe. Aus den verschiedensten Theilen Innerrusslands sind die Leute hier zusammengeströmt, es handelt sich also wie es scheint um ein Vermischen russischer Sprechweisen. Doch kommen, so wie ich, der allerdungs von russ. Mdd. kaum eine Ahnung habe, sehe, recht merkwürdige Dinge vor so unter den lautlichen Eigenthümlichkeiten |3| wie дли, бли = для, кумпалъ = куполъ, алпатка = лампадка und so sehr vielerlei; freilich hat offenbar der Verf. manches nur dem morphologischen Theil (es folgt ein lexikalischer und schliesslich Sprachproben) vorweggenommen, wie die Vertauschung von w mit m im Gerundium (слажомши = сложивши).

Da ich neulich Ihnen von meinem Pensionierungsgesuch sprach, so gestatten Sie mir hierzu Etwas nachzutragen. Dasselbe kam rasch vom Ministerium an die Statthalterei, schon am 30. Nov., blieb lange dort liegen und wurde kürzlich der Fakultät mit der Aufforderung zugestellt sich darüber "zu äussern". Der unglücksselige büreaukratische Schimmel! Da Pensionierungsgesuche sonst dieser Behandlung nicht unterliegen, so hätte doch gesagt werden müssen, |4| in welcher Beziehung man sich über das Gesuch äussern soll. Etwa über seine Berechtigung? Dann wird die Darstellung meines Gesundheitszustandes vor ein paar Dutzend Leuten verlesen, von ihnen diskutiert privatim untereinander und ihren Familien glossirt – eine höchst angenehme Aussicht für mich. Das kommt nur zu meinem Leiden selbst hinzu. Etwas Tröstliches kann ich aber doch melden; ich habe nämlich die Gründung einer sprachwissenschaftlichen Gesellschaft angeregt, die sich hoffentlich mit der Zeit entwickeln und gedeihen wird, Meringer2 betrachtet die Sache mit allzugrossem Optimismus - wir haben hier doch nicht das Material zur Verfügung wie in Wien.

Mit verbindlichstem Gruss

Ihr ergebenster

H Schuchardt


1 Некоторые особенности живого говора города Ейска, Кубанской области. М. А. Харламова, in: Сборник материалов для описания местностей и племен Кавказа. Выпуск 26. 1899г.

2 Rudolf Meringer (1859–1931), Linguist, beschäftigte sich mit komparativer Grammatik der indoeuropäischen Sprachen, lehrte an der Universität Wien und Universität Graz. Siehe auch Volkskundemuseum (abgerufen am 28. 07. 2016).

Faksimiles: Die Publikation der vorliegenden Materialien im „Hugo Schuchardt Archiv” erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Universitätsbibliothek Zagreb. (Sig. s.n.)