Hugo Schuchardt an Vatroslav Ignaz Jagič (41-s.n)

von Hugo Schuchardt

an Vatroslav Ignaz Jagič

Gotha

01. 04. 1894

language Deutsch

Schlagwörter: Budapesti Hírlap Indogermanische Forschungen Universität Leipzig Junggrammatiker Universität Czernowitz Universität Innsbrucklanguage Russischlanguage Iberischlanguage Ungarischlanguage Ladinisch Leskien, August Boccaccio, Giovanni Oblak, Vatroslav Wien Graz

Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Vatroslav Ignaz Jagič (41-s.n). Gotha, 01. 04. 1894. Hrsg. von Claudia Mayr und Helena Reimann (2022). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.4847, abgerufen am 18. 04. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.4847.


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Gotha 1 April 94.

Verehrter Herr Hofrath,

Wenn Sie meine Schriftzüge sehen, werden Sie zu dem Analogieschluss berechtigt sein dass ich Ihnen schreibe um Etwas von Ihnen zu bekommen oder zu erfahren. Das trifft nicht zu aber ebensowenig die Annahme dass ich nichts von Ihnen verlange.

Hier in meinem väterlichen Hause hat sich bei mir lebhaft die Neigung zum Russischen entfaltet. Mag das nun daher kommen dass der deutsch-russische Handelsvertrag abgeschlossen worden ist oder dass nicht bloss im übertragenden, sondern im eigentlichen Sinne beständig von Russland her uns heiteres Wetter zugeweht wird |2| oder dass die Schwester des Zaren jetzt über dieses Ländchen gebietet oder dass die ältesten Hofdamen sich irgend eines ljublju vas ihrer Jugend erinnern oder dass mein seliger Vater einen hohen russischen Orden besass oder dass vor Wochen mich ein russisches Fräulein auslachte als ich das harte l mich auszusprechen bemühte, kurz ich lese jetzt täglich auf meinem west-östlichen Divan in dem trefflichen russischen Echo (von Morowsky) trefflicher als alle mir bekannten Chrestomathieen und Lesebücher! - , theils um mich zu meinen ziemlich unfruchtbaren Spaziergängen unter den Trümmern des alten Iberisch zu stärken, theils um mich nach der aufregenden Lektüre des Budapesti Hirlap zu beruhigen. Dabei gedenke ich unregelmässig des liebenswürdigen Selbstherrschers aller Slawisten (demnach auch eines ganz unbedeutenden |3| Theils meiner Unbedeutendheit) und träume davon wie schön es wäre wenn er, schwankend ob er seinen Thron in Wien belassen oder ihn nach Agram verlegen soll, sich zu einem Juste-milieu, freilich in der unmittelbaren Nähe des altslawischen Donnergottes, entschlösse. So ist denn dieser Brief zunächst nur eine Symphatiebezeigung die einer innerlichen Gelegenheit, nicht der irgendeines Jubiläums entspringt. Daran schliessen sich nun allerdings ein paar Fragen, sie sind aber nicht sehr wesentlicher Art; wenn Sie Etwas darauf zu antworten haben, dann bitte ich mir das nach Graz (wohin ich morgen auf Umwegen zurückkehre) mitzutheilen.

Ich finde: онъ не разъ упоминается въ русской исторіи. Das Wtb. merkt dazu nichts an; ich nehme, dem Zusammenhang gemäss, das не разъ in dem Sinne des magy.nem egyszer, „nicht ein Mal“ d. i. „öfters“. |4| Das hat nun eine Reihe syntaktischer Betrachtungen in mir angeregt die vielleicht etwas neuartig sind und die ich demnächst fixieren möchte. Den Thatbestand kann ich in Graz zwar selbst ohne Mühe feststellen; aber ich weiss nicht ob ich, mit unseren immerhin beschränkten Hülfsmitteln zu einer richtigen historischen Würdigung dieses разъ gelangen werde welches (auch in разъ, dва, три) die Unterdrückung des ursprünglich betonten Wortes, der одинъ zeigt. - Übrigens will ich Ihnen, mit der Bitte um tiefes Schweigen, gleich mittheilen wozu ich das zu verwenden gedenke. Leskien mit dem ich schon während meiner Leipziger Privatdozentur befreundet war feiert binnen Kurzem sein 25 jähriges Professorenjubiläum. Die Redakteure der „Indogermanischen Forschungen“ widmen ihm einen Band der „ausschliesslich Beiträge seiner Freunde und Schüler bringen soll“. Man hat mich bei den im weitesten Kreise ergangenen Einladungen wohl nicht vergessen (ich bin ja überdies mit Brugmann1 persönlich bekannt geworden) – sondern |5| absichtlich übergangen. Man scheint, kurz gesagt, meine Ansichten über das Wesen der „Lautgesetze“ persönlich genommen zu haben. Das finde ich nun, um es studentisch zu sagen, eine solche Kaffernhaftigkeit dass ich, mit einer kleinen Anspielung darauf, Leskien zu jenem Tage auf eigene Hand ein paar Seiten widmen möchte …

Sodann möchte ich gern wissen wie gross das Buch Wesselofskys über Boccaccio ist und ob es vielleicht auch in einer westlichen Sprache erscheinen wird. Ich habe mich früher sehr angelegentlich mit Boccaccio beschäftigt, ich gehöre zu den wenigen Romanisten die russisch ein wenig buchstabieren können, Wesselofsky kenne ich persönlich – daher wundert es mich dass er mir das Buch nicht geschickt hat. Es ist mir aber doch wiederum lieb dass er es nicht gethan hat weil ich mich vielleicht zu einer Besprechung verpflichtet gefühlt hätte die ich bei meiner Langwierigkeit kaum zu Stande gebracht haben würde. Es müsste aber nun doch irgendein Romanist über das Buch sich äussern; durch seine sprachlichen Kenntnisse wäre wohl Gartner2 am Meisten dazu berufen.

Oblak gefällt mir immer besser – nur körperlich nicht. Er macht mir den Eindruck solche Mühe beim Sprechen zu haben dass dadurch oft meine Aufmerksamkeit von dem Gegenstand des Gesprächs abgelenkt wird.

Mit herzlichem Grusse

Ihr ganz ergebener

H. Schuchardt


1 Karl Brugmann (1849–1919), deutscher Indologe, Linguist und Indogermanist, Professor an der Universität Leipzig, gilt neben Leskien als einer der wichtigsten Junggrammatikern. Beschäftigte sich v. A. mit Morphologie.

2 Theodor Gartner (1843–1925), Romanist, Professor an der Universität Czernowitz und Universität Innsbruck, verwendete als erster den Begriff „Rätoromanisch“ für das Ladinische in Graubünden, Südtirol und im Friaul. Siehe auch ÖBL.

Faksimiles: Die Publikation der vorliegenden Materialien im „Hugo Schuchardt Archiv” erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Universitätsbibliothek Zagreb. (Sig. s.n)