Vatroslav Ignaz Jagič an Hugo Schuchardt (94-05051)

von Vatroslav Ignaz Jagič

an Hugo Schuchardt

Wien

16. 02. 1913

language Deutsch

Schlagwörter: Archiv für slavische Philologielanguage Kaukasische Sprachenlanguage Russischlanguage Koptischlanguage Slowenisch Lopatinskij, Leo von Graz

Zitiervorschlag: Vatroslav Ignaz Jagič an Hugo Schuchardt (94-05051). Wien, 16. 02. 1913. Hrsg. von Claudia Mayr und Helena Reimann (2022). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.4805, abgerufen am 10. 09. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.4805.


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Wien 16. 2. 1913
VIII/1 Kochgasse 15

Lieber Herr Kollega!

Für den Fall, daß Sie nichts vernünftigeres zu tun haben, würde ich Ihnen zumuten eine im Manuskript aber leserlich geschriebene Abhandlung über den Einfluß der kaukasischen Sprachen auf einige rußische Suffixe zu lesen, die mir ein gewisser Herr Lopatinskij1 zur Publikation fürs Archiv eingesendet hat. Der Verfasser der Abhandlung mag mehrere kaukasische Sprachen studiert haben, aber die Art und Weise, wie er sie zur Erklärung einiger russischer Suffixe verwendet, ist nach meinem beschränkten Menschenverstand, ganz unzulässig und unmöglich.

Als ich vor etwa 35 Jahren in Berlin mit Dr. Abel 2verkehrte, der das Koptische mit Hilfe des Janežič’schen 3 Wörterbuchs zu erklären trachtete, lehnte er meine Einwendungen immer damit ab, daß er sagte, ich möge von meinem beschränkten slavischen Standpunkte recht haben, er stehe aber auf einem „höheren“ Standpunkte, der unsere |2|Resultate ignorieren darf. So mag sich auch Herr Lopatinskij die Sache vorstellen. Ich möchte aber doch auch von Ihnen erfahren, ob auf Sie die Beweisführung des Verfassens nicht vielleicht einen besseren Eindruck macht.

Die Arbeit ist nicht umfangreich, 33 kl. 4⁰-Seiten, sie wird Ihnen nicht viel Zeit rauben, höchstens vielleicht Appetit verderben. Darum sollen Sie sie nicht vor dem Mittagessen lesen.

Ich hoffe, daß Sie sich ganz wohl befinden, was ich auch für jetzt von mir sagen zu dürfen glaube. Wenn auf die Kälte bald wärmere Tage folgen werden, könnte ich dann selbst nach Graz kommen, um mir diesen kaukasischen Schatz abzuholen.

Mit herzlichem Gruß

Ihr

alter Freund

V. Jagić

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PS: Ich habe beinahe vergessen zu sagen, daß ich das Manuskript Ihnen erst dann vorlegen will, wenn Sie sich damit einverstanden erklären!


1 Лев Григорьев Лопатинский [Lev Grigor’ev Lopatinskij] (1842-1922), Linguist für russische und kaukasische Sprachen, gab einige Wörterbücher heraus (z. B. Russko-Kabardinskij Slovar i Kratkoju Grammatikoju, Tiflis 1890 ) und erstellte 1890 ein Karbadinisches Alphabet ( Энциклопедический словарь-справочник лингвистических терминов и понятий. Русский язык. Том 2. Коллектив авторов. 717 )

2 Vermutlich Carl Abel (1837-1906), deutscher Altphilologe, Jounalist und Übersetzer

3 Anton Janežić (1828 – 1869), Slawist, studierte in Wien, wirkte in Kärnten als Übersetzer von gesetzestexten und Schulbuchherausgeber, bedeutend für die Verbreitung und Stabilisierung der slowenischen (Schrift-) Sprache. Siehe auch in ÖBL

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 05051)