Vatroslav Ignaz Jagič an Hugo Schuchardt (65-05040)

von Vatroslav Ignaz Jagič

an Hugo Schuchardt

Wien

13. 08. 1900

language Deutsch

Schlagwörter: language Ungarischlanguage Slowenisch Asbóth, Oszkar Munkácsi, Bernhard Miklosich, Franz von Melich, János Graz

Zitiervorschlag: Vatroslav Ignaz Jagič an Hugo Schuchardt (65-05040). Wien, 13. 08. 1900. Hrsg. von Claudia Mayr und Helena Reimann (2022). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.4793, abgerufen am 01. 04. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.4793.


|1|

Wien d. 13. Aug. 1900

Lieber Herr College!

Wenn sich Ihr Unmuth auf die Frage über die ältesten Berührungen der Magyaren mit den Slaven bezieht, so muß ich Ihnen sagen, daß ich darüber gerade in dem Heft, das zu Ende geht, eine ziemlich ausführliche kritische Abhandlung Ásbóths gegen Munkácsy gerichtet, zum Abdruck gebracht habe. 1Munkácsy vertritt die Ansicht, daß Magyaren schon auf dem ruß. Boden mit den russischen (nach heutiger Benennung) Slaven in Berührung kamen und manches von ihnen entlehnten. Ásbóth bekämpft ihn mit, wie ich glaube, überzeugenden Gründen. Allein ich kann auch mit Ásbóth nicht ganz übereinstimmen. Er scheint mir Pest und die Cisdanubische Hälfte Pannoniens für jenen Schauplatz zu halten, wo die Entlehnung der slav. Wörter ins Magyarische stattfand, indirect ist er dadurch mit dem verstorbenen Volf derselben Ansicht, die Kopitar2-Miklosich vertreten, nämlich dass in Westpannonien die heutige kirchenslavische Sprache ihre wahre Heimath hatte. Ich glaube nicht, daß das aus magyar. Lehnwörtern mit st = шт und zsd = жд gefolgert werden kann. Es ist nur so viel richtig, daß ein mostoha in der That ein маштеха voraussetzt, aber daß die Entlehnung erst in Westpannonien (um Plattensee herum) habe stattfinden müssen, das scheint mir durch nichts bewiesen zu sein. Es ist überhaupt eine sehr schwierige Frage, die in die magyarische Sprachgeschichte hineingehört, das Alter der slavischen Ausdrücke im Magyarischen zu bestim|2|men und dann auch die Entlehnungen dialectisch zu sondern. Ich glaube, daß in dieser Beziehung noch sehr wenig geschehen ist. Auch Ásbóth bringt die Sache nicht vorwärts. Ich habe z.B. szerencse als bedeutsam hingestellt wegen Nasalismus + č statt des erwarteten št. Nun kam er mit der Ausflucht, szerencse sei aus szerenste durch die Metathesis st in ts entstanden. Ich glaube an diese Metathese nicht. Mit mir stimmt ein junger Philolog Dr. Melich überein. Wenn ich recht habe, so ist szerencse eine wirklich in Westpannonien gemachte Entlehnung, wo man aber sręča (also nicht sręšta) sprach.

Viele Slavismen im Magyarischen sind Serbismen oder Kroatismen, anderer wieder Slovenismen, einige werden wohl auch Russismen sein. Was ist nun davon alt? Gewiß wird ein allgemein verbreiteter, einzig im Gebrauch stehender Ausdruck älteren Ursprungs sein |3|als ein räumlich beschränktes Wort. Nach dieser Seite hat meines Wissens noch Niemand die Frage behandelt.

Auch aus den Bedeutungsunterschieden wird manches zu gewinnen sein. Z.B. wenn der Magyare hála für hvala (хвала) sagt, so ist dieses Lehnwort in der Bedeutung = Dank, offenbar südslavisch, da nur bei den Serben-Kroaten-Slovenen hvala bogu (Gott sei’s Dank) gesagt wird, entsprechend dem magyarisch hàla istenek. Der Russe würde sagen „слава богу“.

Der langen Rede kurzer Sinn ist der: ich kann nicht als bewiesen ansehen, daß die Magyaren schon während der Wanderungen durch Südrussland von den Slaven Wortentlehnungen machten, ich halte aber auch nicht Westpannonien für den eigentlichen Schauplatz der Entlehnungen. Mir scheint daß das Gros der Entlehnungen allerdings in Pannonien stattfand, doch |4| möchte ich die Grenzen geographisch so ziehen daß ich sage, jenseits der Donau (von Graz aus besehen), an der Theiß und in den Niederungen der Walachei hat die Entlehnung aus dem slavischen Wortschatz begonnen, fortgesetzt mag sie geworden sein im Laufe des Mittelalters überall in Pannonien, also im Süden und Norden, Osten und Westen.

Wenn die Magyaren, wie Ásbóth es möchte, erst um Pest herum und in Westungarn (Balatonsee) die Entlehnungen vorgenommen hätten, so würden sie nicht Kereszt haben, sondern an Križ die Entlehnung anlehnen. Denn die Westslaven (Slovaken, Slovenen, Kroaten) haben trotz dem kirchenslavischen крьстъ ihr aus dem Germanischen (Althochd.) entlehntes Križ durch alle Jahrhunderte aufrechtzuerhalten verstanden.

Was die zweite, vielleicht noch wichtigere Frage betreffs der Werke über |5|рыболовство betrifft, so möchte ich rathen den Herbst abzuwarten, bis sich wieder Rußland in den Städten sammelt, dann würde man am leichtesten zum Ziele gelangen, durch Vermittlung bekannter Akademiker, die jetzt auf ihren Dörfern leben.

Ob dieses „G’schreibs’l“ Ihren Unmuth einigermaßen zu stillen vermag, weiß ich allerdings nicht. Zur Entschuldigung möchte ich auch das noch vorbringen, daß ich vorige Woche einige Tage abwesend war. Ich wollte meinen Sohn, der jetzt schon Dr. vor seinem Namen setzt, aus der Spitalluft herausreißen. Wir fuhren in die Alpen, begegneten auf der Heimreise in Kernhof den Wiener Gemeinderäthen mit Lueger an der Spitze, |6| die uns theilweise zwangen eine andere Route einzuschlagen als wir wollten, dafür aus Rache baten wir den Jupiter pluvius daß er ihnen die Reise gründlich zu Wasser machte, während wir das herrlichste Wetter hatten.

Mit vielen Grüßen

Ihr

treuergebener

V. Jagić


1 Oszkar Asboth, "Die Anfänge der ungarisch-slavischen ethnischen Berührung", in: Archiv für slavische Philologie, Bd. 22, 1900

2 Jernej Kopitar (1780 – 1844), Slawist, kulturpolitischer Austroslawist, Zensor für slawisches, neugriechisches, albanisches und rumänisches Schrifttum in Wien, Herausgeber der ersten Grammatik der slowenischen Sprache (Basis für Wr. slawistische Schule). Siehr auch ÖBL Online-Edition (17.02.2022)

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 05040)