Vatroslav Ignaz Jagič an Hugo Schuchardt (14-05023)
an Hugo Schuchardt
17. 05. 1886
Deutsch
Schlagwörter: Serbisch Petruszewicz, Antoni Wien
Zitiervorschlag: Vatroslav Ignaz Jagič an Hugo Schuchardt (14-05023). Sankt Petersburg, 17. 05. 1886. Hrsg. von Claudia Mayr und Helena Reimann (2022). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.4776, abgerufen am 01. 04. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.4776.
St.Pbg. 17.5.1886
Hochverehrter Herr College!
Meinen herzlichsten Dank für die freundliche Erinnerung. Sie ersetzt mir reichlich die Lücken, die sich bei dieser Gelegenheit zeigten – auf anderer Seite. Z.B. meine Landsleute scheinen meinen Schritt zu mißbilligen, wenigstens aus Agram, aus Belgrad – kein Wort. Die Grazer Slavisten lieben mich schon seit langem nicht wegen der Haeresie betreffs des König H. Sl. Der Polen werde ich jedenfalls zu russophil vorkommen! Und die Slovenen – nun, die werden mißbilligen, daß nicht ein „slovenischer“ Slavist die Stelle M. einnahm, einen solchen haben Sie ja in nächster Nähe. Sie sehen also, ich gebe mich keinen Illusionen hin, wahrhaftig ich habe mich schwer dazu entschloßen. Es ist doch |2|angenehm ruhig, fern von kleinlichen nationalen Aspirationen, seiner Wissenschaft leben zu können. Ich wünsche das auch in Wien fortzusetzen.
Nun zu Ihrer Frage:
1. Ich finde das kleinrussische kerečunj sehr auffallend. Es ist das gegen alle Regeln, zumal man im altrussischen richtig „корочюнъ“ kannte. Ich bin augenblicklich nicht in der Lage das Wort zu belegen. Sonderbar Želechovskиј 1 citirt es gar nicht! In den gewöhnl. Beschreibungen (bei Čubinskij2) fand ich es ebenfalls nicht. Petruszewicz3 citirt nur kerеčun (mit ъ am Ende) večer und von den Huzulen sagt er, sie sprechen корочунъ = Adventfasten.
2. Kerečun weiß ich mir nicht zu erklären, кoročunъ wenn es Lehnwort ist müßte sich an коrоткij oder o-коpок ( serb.krak und auch korak) angelehnt haben.
3. Krzčunъ könnte auch mit Kračunъ nichts gemein haben, denn Krѣčъ, krѣčiti etc. sind bekannte slavische Wörter. Sonderbar kennt Vuk fürs serbi|3|sche das Verbum krčumati se sich sträuben! Sollte dahinter die alte Bedeutung des „fastens“ verblaßt noch vorliegen? Vergleichen Sie dagegen den von Daničić citirten Ortsnamen „Крачюнище“, was deutlich auf крачюнъ hinweist.
3. Die Ableitung aus dem slawischen, wie ich Ihnen glaub‘ ich bereits geschrieben habe, hat das auffallende in Č, wegen bĕgunъ, sкакunъ, das sollte man im slavisch krakun (= korokunъ) erwarten.
4. Können Sie die rumänische Form des Wortes aus Christi jejunium leicht erklären. Wenn Sie das thun können, so sind wir Ihnen für die Befreiung aus der Verlegenheit betreffs der slav. Worte sehr dankbar.
Ich bleibe bis Ende Juni in Petersburg, dann komme ich nach Wien (meine Familie reist Donnerstag dorthin ab), um im Sept.|4|nochmals einen Monat hier zuzubringen. Wie Sie sehen, ich trenne mich schwer von Russland. Ich liebe Russland, aber viele Russen sind mir wenig sympathisch.
Mit herzlichen Grüßen
Ihr ganz ergebener
V. Jagić
1 Желиховский, Евгений [Želichovskij, Evgenij] (1844-1885), galizischer Gelehrter, Gründer des Arbeiterbildungsvereins “Просвит”, 1886 Veröffentlichung seines “kleinrussisch-deutschen” Wörterbuchs.
2 Чуби́нский, Па́вел Плато́нович [Čubinskij, Pavel Platonovič] (1839-1884), russisch-ukrainischer Ethnograph.
3 Anton Petruszewicz, russ. Historiker, Philologe und Politiker.