Walter von Wartburg an Hugo Schuchardt (09-12632)

von Walter von Wartburg

an Hugo Schuchardt

Aarau

23. 01. 1926

language Deutsch

Zitiervorschlag: Walter von Wartburg an Hugo Schuchardt (09-12632). Aarau, 23. 01. 1926. Hrsg. von Pierre Swiggers (2016). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.4761, abgerufen am 16. 04. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.4761.

Printedition: Swiggers, Pierre (1990): Lumières épistolaires sur l'histoire de F.E.W. Lettres de Walther von Wartburg à Hugo Schuchardt. In: Revue de Linguistique Romane. Bd. 54 (215/216)., S. 347-358.


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Aarau, den 23.1.1926

Sehr verehrter herr Professor,

Für die mir gütigst übersandte abhandlung über den individualismus in dersprachforschung1 sage ich Ihnen meinenherzlichen dank. Wir linguisten sind so gewohnt, unsere person und was uns bewegt undzu unserer wissenschaft hinzieht, schamhaft zu verstecken, dass die lektüre Ihrerschrift ausserordentlich erquickend wirkt. Endlich jemand, bei dem sich offenmenschsein und wissenschaft zu verbinden wagen. Und wie viele erste regungen demgleichen was wir auch erlebt haben, wie viele wieder ganz anderer natur sind!

In einem punkt muss ich Ihnen allerdings widersprechen. Das ist das urteil, welchesSie über Sainéans neues buch2 fällen. |2| Ich habe das buch gründlich durchgearbeitet. Es bleibt vielleichtalle 20 oder 30 Seiten eine annehmbare idee. Im übrigen aber scheint es mir, seinezusammenstellungen betreffen entweder selbstverständlichkeiten oder dann besagen sieunsinn. Die hälfte unserer arbeit besteht doch darin, leichtsinnig in die weltgesetzte hypothesen wegzuräumen. Dieser wegzuräumende plunder macht aber bei S.mindestens 95 % des buches aus. Einmal in der von S’s. titel angedeuteten richtungeine gesamtstudie zu machen, wäre verlockend und fruchtbar. Ich vermute, dass Sieauch ungefähr das sagen wollen mit Ihren worten: "Hohe bedeutung usw.". Und wenn Siesich weder befähigt noch für berechtigt erklären in einem urteil, so ist mir, ichsehe hinter diesem satz Ihr nachsichtiges lächeln.

|3| Gerne hätte ich Ihnen noch eine etwas persönliche fragevorgelegt. Wenn Sie sich derselben nicht annehmen können, so betrachten Sie meineworte einfach als nicht geschrieben. Sie haben vielleicht bemerkt, dass die letztenfasz. meines wb. viel schriftfranzös. material enthalten, und dass die schriftsprachemehr ins zentrum rückt, was übrigens der wirklichkeit auch angemessener ist. Seitdieser zeit aber habe ich oft das gefühl einer stilwidrigkeit, dass das buch deutschgeschrieben ist. Solange ich mich fast nur um die mda. gekümmert habe, hat mich dasnicht gestossen. Jetzt aber erscheint es mir als hässlich, dieser beständige wechselzwischen den beiden sprachen. Diese bedenken werden aufs lebhafteste unterstützt vonden franz. romanisten, welche von sich aus in mich dringen, ich solle das buch imweitern franz. schreiben. Der 1. bd. (A-B) muss sowieso am ende des werkes nochmalsneu |4| geschrieben werden, wegen der vielen nachträge. Dieseromanisten sagen, dass auf der provinz viele leute sich darum interessieren, welchestellung ihr lokales idiom einnehme innerhalb des gallorom., und dass mein buch fürdie orientierung der vielen amateure (manchmal ein dankbareres publikum als die leutevon fach!) wertvoll wäre. Das alles aber nur wenn es franz. geschrieben sei, da diekenntnis des deutschen in der provinz nicht sehr verbreitet sei. Spricht das allesfür franz. redaktion, so spricht etwas in meinem innern dagegen, mich für mein ganzesübriges leben in eine fremde sprache einzuspannen. Der fall ist natürlich ganzverschieden von dem Ihrigen. Bei Ihren arbeiten waren immer die hauptsache Ihregedanken über die dinge. Bei meinem buch aber ist das dauernde und eigentlichwertvolle die vereinigung des vielen materials und seine organisation. Bei Ihnenhätte es niemandem einfallen dürfen, zu fordern, Sie sollen nicht Ihre eigenstesprache verwenden; |5| hier aber liegt die sache ganz anders.Ich wäre sehr froh gewesen, wenn Sie mir hätten mitteilen wollen, wie Sie hierüberdenken. Nicht als ob ich etwa die verantwortung für die entscheidung auf fremdeschultern abladen wollte. Ich weiss sehr wohl, dass ich nur nach meinem eigenengefühl entscheiden kann. Aber ich bin überzeugt, dass Ihr wort zur klärung beitragenwürde.

In hochachtung und verehrung Ihr dankbar ergebener

W. v. Wartburg


1 Schuchardt, Hugo.1925. Der Individualismus in derSprachforschung. Wien u. Leipzig: Hölder-Pichler-Tempsky.(Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften in Wien.Philosophisch-historische Klasse 204.2.).

2 Sainéan, Lazare.1925. Les sources indigènes del'étymologie français. Paris.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 12632)