Herbert Steiner an Hugo Schuchardt (44-12265)
von Herbert Steiner
an Hugo Schuchardt
31. 03. 1926
Deutsch
Schlagwörter: Neue Zürcher Zeitung Wissen und Leben: neue Schweizer Rundschau Frankfurter Zeitung Hubschmied, Johannes Ulrich Gauchat, Louis Niedermann, Max Vossler, Karl Graz
Zitiervorschlag: Herbert Steiner an Hugo Schuchardt (44-12265). Zürich, 31. 03. 1926. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2016). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.4692, abgerufen am 01. 10. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.4692.
Zürich 7 Gemeindestr. 4
31.III.26
Hochverehrter, lieber Herr Hofrat,
Ich war ganz glücklich und beschämt von Ihrem lieben Brief – und Hubschmied, der ihn sah, teilte das erste dieser beiden Gefühle.
Und habe ich Ihnen denn schon für Ihre Akademieschrift gedankt? Ich will |2| und werde darüber in die Zürcher Zeitung schreiben – es hätte der kleine Artikel schon zu Ihrem Geburtstag, zu dem ich Ihnen nachträglich unsere (nicht nur meine) herzlichst das Haus auf dem Hügel und Sie selbst umkreisenden Gedanken aufs Papier bannen möchte – also schon damals sollte der kleine Artikel erscheinen, aber Zeit und Kraft haben einfach nicht gereicht. Den Brief für Gauchat|3| konnte ich auch nur als Allerletzter durch besonderen Gnadenakt noch in die Festschrift bringen.
Und nun habe ich kurz nach Neujahr meine seit längerer Zeit leidende Mutter zu gründlicher Untersuchung und Kur nach Zürich genommen, wo sie bis vorgestern war – nun brachte ich sie hieher; ich gehe morgen nach Zürich zurück. Das hat mich auch zeitlich viel gekostet. So bin ich |4| wie immer nur mit starken Verspätungen zu kleinen Zeitungsarbeiten, die mich aber immer eine schwer glaubliche Arbeit und Mühe kosten, gekommen. Ich habe Ihnen gestern einige geschickt – ein paar weitere folgen dieser Tage.
Graz steht immer auf dem Programm … käme es nur dazu …
Niedermann ist von Basel nach Neuenburg übersiedelt, dort wird Ihre Sendung |5| ihn jederzeit erreichen.
Und jetzt Borchardt: wie lieb und nachsichtig von Ihnen, verehrter Herr Hofrat, auf so befremdliche Dinge einzugehen. Denn es sind solche. Ich will versuchen, Ihnen den besten Aufsatz darüber, den Nadlers in „Wissen und Leben“ (Sommer 24)1 zu senden, falls das Heft nicht vergriffen ist. Der Bindingsche Aufsatz, den Sie nur als Ausschnitt sahen, stand in dem neugestalteten |6| oder –gewandeten Literaturblatt der „Frankfurter Zeitung“, der Vosslers in der von Hofmannsthal herausgegebenen Zeitschrift „Neue Deutsche Beiträge“, ein Auszug daraus, der Ihnen zugehen soll, im Berliner Tageblatt vor ungefähr zwei oder drei Jahren.
Ich will auch über B.‘s Trobadors schreiben – der Gauchatbrief ist nur ein erster Teil dieses Artikels. Aber vielleicht hätte ich das, worum |7| ich mich, um Sie zu „bekehren“ oder doch sanft zu stimmen, einfach vorausgesetzt. Ich glaube, es handelt sich – wenigstens von einer Seite gesehen – um Folgendes: Was ist dichterische Sprache, sie kann sich gelegentlich mit der des Tages decken – sie ist nicht identisch mit ihr: sie ist oft anders, sicher umfasst sie mehr. Immer wieder hat sie sich aus zwei Quellen erneut, aus ihnen jung getrunken: an der alten Sprache |8| und an der des Volkes, den Mundarten (zwischen diesen beiden schwebt, oft ein unerfreuliches Zwitterding, die – ich möchte sagen – „gesprochene Schriftsprache“). Ein solcher Versuch der Erneuerung, aus sehr leidenschaftlichem Temperament, aus sehr weitem organisch lebendigem Wissen unternommen, allen Schwierigkeiten zum Trotz, mit ungewöhnlicher Konsequenz im Ganzen, bei aller Flexibilität im Einzelnen, ist der |9| Borchardts: vielleicht ein grandioses Bahnen von Strassen, vielleicht absurd und grandios verrannt, vielleicht beides. Er lebt mit den Dichtungen aller deutschen Jahrhunderte, er schöpft (dies vielleicht in schwächerem, unorganischerem Masse) aus den Älteres bewahrenden Mundarten. So in seinem Dante, so in den Trobadors (nicht in den anderen, sehr sprachgewaltigen Übersetzungen: Pindar, Swinburne, Carducci usw.). In |10| diesem Sinne mag Binding mit „Borchardtisch“ recht haben, so wenig glücklich mir dieser Ausdruck scheint; in diesem Sinne ist Vosslers „traumhaftes Deutsch“ gemeint; so auch meine Erwähnung von B.s „Begriff des Archaischen“.
Gauchat fand sich bei den Trobadors, glaube ich, hinein – die von Ihnen halb freundlich spielend halb abweisend vermutete Borchardt=Camorra existiert doch nur halb. Bei |11| mir freilich liegt fast zwanzigjährige Kenntnis und Liebe seiner Schriften vor – aber gerade diese Art von Deutsch braucht lange, mich von ihrer Legitimität auch nur sich selbst gegenüber zu überzeugen. Dennoch scheint sie mir heute da zu sein.
Ich will versuchen, Ihnen, verehrter Herr Hofrat, ein, zwei Trobadortexte, vielmehr B.-Texte leserlich abschreiben zu lassen, und melde mich bald wieder bei Ihnen.
|12|Hoffentlich habe ich Sie heute nicht allzu sehr ermüdet. Ich habe Ihnen freilich nur Selbstverständliches, ärger noch: Ihnen Allzulang=, Allzugut=, Viel besser= Bekanntes gesagt. Habe ich mich um die Sache selbst gedrückt? Hoffentlich nicht ganz. Bald mehr.
Immer in dankbarster und herzlichster Verehrung grüssend und innerlich oft bei Ihnen,
Ihr
Herbert Steiner.
Hubschmied grüsst mit mir!
1 Josef Nadler, „Von Bodmer zu Borchardt: Um die neue Dichtersprache“, Wissen und Leben 17, 1924, 883f.