Hugo Schuchardt an Malvine Schuchardt (09-10328)
von Hugo Schuchardt
29. 06. 1887
Deutsch
Schlagwörter: Baskisch Goyetche, Pierre
Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Malvine Schuchardt (09-10328). Sare, 29. 06. 1887. Hrsg. von Bernhard Hurch (2016). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.4610, abgerufen am 27. 09. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.4610.
Sare, 29 Juni 1887
Meine theuerste Mama,
So habe ich denn wieder einmal einen langen Brief von Dir bekommen! Freilich meldet er noch Nichts von der projektierten Ausfahrt, und von dem Appetit noch nichts Befriedigendes. Daß der spanische Mais nicht mundete, habe ich schon aus dem Stillschweigen darüber geschloßen; nun aber, mit großer Belustigung (nicht über das Faktum sondern über die Form) aus der Anfrage ob er gekocht werden müsse. Ein verzweifeltes Mittel ihn genießbar zu machen! – Herzlers Diagnosen sind von jeher wenig glücklich gewesen und in den letzten Jahren war ich deshalb im Falle einer Erkrankung Deinerseits doppelt besorgt. Ich begreife wohl daß Du ihn Clärchens willen nicht ganz fallen lassen magst; muß man aber denn |2| sein Leben aus einer solchen Rücksicht auf’s Spiel setzen? – Was ist denn das mit den Blutverlusten, von denen Du schreibst?
Mein Leben fließt in angenehmer Monotonie dahin. Neulich habe ich an einem wunderschönen Tag, die Hitze war durch eine frische Brise gemildert, einen Ausflug nach der Grotte von Sare gemacht, die 1858 auch von Napoleon und Eugenie besucht worden war. Obwohl man mir sagte ich fände den Weg dahin allein schwerlich, so gelang mir dies doch. Trotz der einsamen Gegend und der nicht ganz befriedigenden Ergebnissen von unterwegs geführten baskischen Gesprächen. Die Grotte liegt am Fuß des steil aufsteigenden Peña de Plata, über welche die Grenze führt, und |3| ist etwa 1 ½ Stunden von hier entfernt. Ich marschierte in meinen baskischen Hanfschuhen sehr rasch und leicht. – Auf die starke Hitze ist eine gewitterhafte regnerische Periode gefolgt, in der wir uns noch befinden. Manchmal ist die Luft drückend, dann wieder recht kühl.
Seit gestern wohne ich im Hause des Bürgermeisters, d. h. mein Hausherr, M. Goyetche, ist zum Bürgermeister, oder besser gesagt, zum Maire erwählt worden, was er schon früher und zwar 27 Jahre lang, war. Er gehört der hier in der Majorität befindlichen reaktionären (royalistisch = ultramontanen) Partei an wie meine sämmtlichen hiesigen Freunde; die republikanisch Gesinnten sind |4| im großen Ganzen auch räumlich getrennt – sie wohnen zumeist in einem andern Quartier.
Katiche welche während ihrer Geschwindpilgerfahrt nach Lourdes (in 30 Stunden ! zwei Nächte unterwegs) – sie brachte Allen Souveniers mit, mir ein baskisches Gebetbüchlein – ihren in Saint-Pé (zwei Stunden von hier) wohnenden Vater verlor (sie ist jetzt gerade, zur Neuvaine, dort), wird in wenigen Tagen heirathen. Sie ist mit ihren dreißig Jahren und dem gänzlichen Mangel des Oberkieferzähne (hier von einem gewissen Alter an sehr gewöhnlich – die jungen Mädchen d. h. die bis 20 Jahre – haben meist sehr schöne Zähne – Einfluß des Wassers?),1 ein so braves, gutes und auch auf meine sprachlichen Bedürfnisse bedachtes |5| Mädchen, daß ich mich bei dieser Gelegenheit möglichst liberal benehmen werde. Das andere seit einiger Zeit aufgenommene Mädchen, Francisca, ist noch ganz jung und etwas ungewandt; sie weiß kein Wort Französisch, säuselt aber ihr Baskisch so geheimnisvoll dahin, daß ich den Wind in einer Äolsharfe ebenso gut verstehe. Mit meinem Studium geht es vorwärts; ich habe das gestern in der Predigt constatiren können, von der ich schon viel mehr als das letzte Mal verstand. Mein Haupthinderniß ist für mich mein schlechtes Gehör; denn man spricht hier ganz besonders rasch und undeutlich. Und abgesehen davon daß das Baskische wirklich eine der schwierigsten Sprachen die es gibt, kommen noch ganz besondere Umstände hinzu die seine Erlernung |6| erschweren. Mein Schuster und ich wir sind beide etwas ungeduldig; und wenn wir, wie es häufig vorkommt, uns nicht verstehen – in Wort oder Sache – so rollen wir wild die Augen gegeneinander und erheben die Stimme. Ich habe das landesübliche Kartenspiel Musch gelernt, das mir sehr gefällt; doch kostet es meine erhöhte Anstrengung, seine Feinheiten zugleich mit denen der baskischen Sprache zu überwältigen. Ich muß mich vor Allem von dem Französischen möglichst fernhalten; auf den Bänken vor dem Hause unter der Platanenlaube sitzen den ganzen Tag Leute, das Ehepaar und seine Bekannten, und da darunter ein und der andere ist, welche nicht gut Baskisch können, so wird meist Französisch gesprochen. Mit der Frau Goyetche, welche wirklich |7| eine sehr liebe Dame ist, radebreche ich übrigens größtentheils die Sprache des Landes. – Abends trinke ich meinen Thee in Gesellschaft des Ehepaars. Mein Appetit ist normal, aber gering. Ich trinke wenig Wein; aber es ist erstaunlich was ich auf der ganzen Reise und nun auch hier an Caffee - großtheils schwarzem - zu mir nehme, ohne daß meine Nerven sich deshalb schlechter befänden. Ich muß schließen, meine Herzensmama, sonst geht der Brief heute nicht mehr fort. Grüße die Tante Therese, so wie Augusten und Ricken.
Ganz Dein treuer Sohn.
1 Vgl. zu diesem Thema die Postkarte von Anton Bleichsteiner an Schuchardt in Sara vom 20. Juli 1887. An ihn hat sich offenbar Schuchardt um Auskunft zu diesem Thema gewandt; Nr. 1887-07-20 ( 01-1033).