Hugo Schuchardt an Malvine Schuchardt (02-10321)

von Hugo Schuchardt

an Malvine Schuchardt

Sare

27. 05. 1887

language Deutsch

Schlagwörter: Bibliothèque de la ville Bayonne Geburtstag Mocochain (Bayonne)language Baskisch Hiriart, Cyrille Léon Duvoisin, Jean-Pierre Webster, Wentworth Inchauspe, Emmanuel (1858)

Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Malvine Schuchardt (02-10321). Sare, 27. 05. 1887. Hrsg. von Bernhard Hurch (2016). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.4602, abgerufen am 27. 09. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.4602.


|1|

Sare
Basses - Pyrénées
27 Mai 1887

Meine Herzensmama!

Ich betrachte es als ein gutes Zeichen dass heute einmal wieder etwas sonniger Himmel über mir ist: freilich weht noch ein kühles Lüftchen (oder vielmehr es ist kühler als es gestern bei ganz trübem Himmel war). Es gefällt mir hier ungemein, auch abgesehen davon dass das Ziel einer so vielfach unterbrochenen Reise immer etwas sehr Angenehmes hat. Es ist die lieblichste idyllischste Landschaft die sich denken lässt; Wiesen, Haine, Bäche, Pfade, alles aufs Mannigfachste |2| sich durcheinanderschlingend, mit weissen Häusern durchsät (die baskischen Häuser pflegen vereinzelt zu liegen), von einem stattlichen Gebirgspanorama (wenn es auch nur die niedern Pyrenäen sind) umrahmt. Ich wohne in einem alterthümlichen Privathaus (die Herrschaft ist in Spanien bei ihrer Tochter), habe einen grossen parketirten Salon mit zwei rückwärtigen Kabineten und lasse mir von meiner baskischen Marie kochen, was keine grosse Mühe macht, denn mein Appetit ist nun schon seit lange sehr schwach und ich bin froh dass ich der Table d'hôtevöllerei überhoben bin. Ich steige zu dem Zwecke in den Speisesalon im Erdgeschoss herab, |3| wo für mich aufgetischt wird. Die benannte Maria oder vielmehr Catiche (Katharina), welche sich durch Schönheit keineswegs auszeichnet, ist sehr brav, sorgsam und reinlich. Es wird nicht lange dauern, und ich werde hier ganz festen Fuss gehabt haben. Den Arzt und ein paar andere Herren, die ich gestern mit dem Rev. Webster besuchen wollte, traf ich nicht an. Dieser Engländer, der übrigens eine Preussin zur Frau hat, wohnt schon, ich glaube zwanzig Jahre hier, spricht aber ein schauderhaftes Französisch, sodass ich ziemlich sicher bin, Baskisch ebenso gut |4| verstehen zu lernen. Das Ehepaar ist übrigens ausserordentlich liebenswürdig gegen mich, sie ist mit mir Wohnungen suchen gegangen. Heute morgen habe ich nun wirklich angefangen Baskisch zu reden; neben mir wohnt ein buckliger, aber intelligenter Schuh-macher und Poet dazu, mit dem ich täglich stundenlange Konversationen zu halten  gedenke. Für's erste Mal ist es heute schon recht leidlich gegangen. – Tagebuchartige Mittheilungen werde ich jetzt nicht mehr schicken; mein Leben wird, wie ich es im Ganzen doch am Liebsten habe, ein monotones sein: Studien und Spaziergänge. Wie gesagt, ich fühle mich  hier ausserordentlich heimisch. Sobald aber meine theure Mama Sehnsucht nach mir bekommen sollte, so braucht sie es nur zu sagen und |5| ich kürze meinen Aufenthalt ab. Als Nachtrag noch folgendes. Vom 18. Mai Abends bis 25. Mittags war ich in Bayonne, eine ziemlich ruhige, in enge Festungswerke eingeschlossene Stadt, mit deren Besichtigung man rasch fertig ist. Ich habe dort nichts Besonderes zu thun gehabt, als zu studiren. Habe die Bibliothek (der Stadt) benutzt und mich mit dem Vorsteher derselben, einem Basken Hiriart,1 viel unterhalten; mit dem sehr intelligenten und litterarisch thätigen Unterbibliothekar (der eigentlich Uhrmacher ist) Ducéré habe ich weniger verkehrt.2 Sodann besuchte ich von Zeit zu Zeit den Antiquar Mocochain,3 von dem ich schon nach Graz Bücher hatte kommen lassen. Den Abbe Inchauspe 4 der sich in der baskischen Philologie ausgezeichnet hat, traf ich |6| am vorletzten Tage erst an – er war von einer Rundreise mit dem Bischof zurückgekommen. Das Wetter war wie gesagt meistens schlecht, ein sonniger Nachmittag der vom 19. (Himmelfahrt), wo die Platzmusik in Klein Bayonne spielte. Am Sonntag (22.) fuhr ich um 1 Uhr nach Biarritz (eine ganz kurze Strecke mit der Eisenbahn) und die paar Stunden die ich dort zubrachte, war es ebenfalls leidliches Wetter. Nach meiner Rückkehr hörte ich wiederum der Platzmusik zu, die diesmal vor der Stadt war. Am vorhergehenden Samstag hatte ich einen ziemlich weiten Spaziergang vor die Thore |7| gemacht, dem Adour entlang bis gegen das Meer hin das ich erreichen wollte – was ich aber dann doch wegen der vorgerückten Stunde aufgab. Am 25. fuhr ich Mittags mit der Eisenbahn nach St. Jean-de Luz, besuchte dort, oder vielmehr in dem nur durch eine Brücke davon getrennten Ciboure, den Kapitain Duvoisin,5 baskischen Übersetzer der Bibel, und fuhr dann mit der Diligence - und zwar auf dem Bocke - (das Innere dieser Omnibusse ist schauderhaft) in zwei Stunden nach Sare, wo ich sofort den Rev. Webster aufsuchte.

|8|

Also, meine Herzensmama, heute hoffe ich dass Du zu Ehren Deines Geburtstages in der Besserung ein Uebriges gethan haben wirst.

Mit tausend herzlichen Grüssen
Dein treuer Sohn


1 Leon Hiriart (1829-1915), nordbaskischer "euskerista". Historiker, Archivar, Bibliothekar und Philologe. Leitete die Stadtbibliothek von Bayonne, Mitglied und Aktivist verschiedener baskischer Gesellschaften. Schuchardt nahm mit Hiriart nahezu 20 Jahre nach seiner Baskenreise den brieflichen Kontakt wieder auf.

2 Étienne-Édouard Ducéré (1849-1910), französischer Urmacher, Archivar und Bibliothekar, der sich intensiv mit dem Baskischen und der lokalen Geschichte von Bayonne beschäftigt hat. Ab 1908 leitete er die Bibliothek der Stadt. Schuchardt hielt mit ihm offenbar keinen Briefwechsel.

3 J. Mocochain war offenbar ein Buchantiquar und war wohl gelegentlich auch als Verleger tätig. Schuchardt bezog von ihm auch nach seiner Reise die schriftlichen Verlagskataloge.

4 Emmanuel Inchauspe (Intxauspe) (1815-1902), Generalvikar der Diözese Bayonne, Theologe und Baskologe. Sein einflußreichstes Hauptwerk (von L.-L. Bonaparte veröffentlicht) war Le Verbe Basque aus dem Jahre 1858. Aus seiner Feder stammen zahlreiche Übersetzungen biblischer Texte (Evangelien, Geheime Offenbarung) ins Baskische (Souletinische); er stand in enger Zusammenarbeit mit Bonaparte.

5 Jean Pierre Duvoisin (1810-1891), baskisch-französischer Zollbeamter und Philologie, Sprachwissenschaftler, Schriftsteller (in beiden Sprachen) und Übersetzer. Vgl. den Brief von Duvoisin an Schuchardt im HSA.

Faksimiles: UB Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative Commons BY-NC-SA https://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/4.0/ (Sig. 10321)