Hermann Urtel an Hugo Schuchardt (56-12307)

von Hermann Urtel

an Hugo Schuchardt

Hamburg

12. 10. 1922

language Deutsch

Schlagwörter: language Spanischlanguage Baskisch Meyer-Lübke, Wilhelm Uhlenbeck, Christian Cornelius Leon, Albert Spitzer, Leo Lacombe, Georges Urquijo Ybarra, Julio de Hurch, Bernhard (2006)

Zitiervorschlag: Hermann Urtel an Hugo Schuchardt (56-12307). Hamburg, 12. 10. 1922. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2016). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.4555, abgerufen am 19. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.4555.


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Hamburg 12. Oktober 1922.

Lieber hochverehrter Freund!

Ihre freundliche Karte an das Mariandel hat mich sehr erfreut und mit wie reizend grossväterlicher Ritterlichkeit haben Sie dem Kind selber geschrieben!1 Aus all solchen kleinen Zügen sehe ich immer wieder, wie Sie von allen wissenschaftlichen Höhen und Tiefen einmal abghen vor allem Ihre ganze Menschlichkeit und Güte sprechen lassen können. Und wie unbegreiflich ist mir, als ich einmal vor Jahren, ehe ich Sie kannte, von einem sehr schlechten Menschenkenner das Urteil hörte: ,Der Sch. ist vor allem kalt und rein Verstandesmensch‘.

Darf ich Sie bitten nun heute diesen Brief einmal ganz ohne strenge Kritik, ganz mit menschlich freundlichem Auge zu betrachten. Ich habe Sie ja nun wieder gesehn und erlebt und das Erlebnis auch im Bilde festhalten dürfen.2 Dieser Brief ist ganz Bekenntnis, bitte vernichten Sie ihn |2| nach der Lektüre. Ich bin sehr unvorsichtig gewesen, als ich Ihnen neulich auf offner Karte von einem Zentralerlebnis in Spanien berichtete, das gar nicht wissenschaftlicher Art war!3 Ich weiss gar nicht mehr, was ich eigentlich für ein Tor bin! Wie die Aussenwelt mich beurteilen mag, ist mir schon längst ziemlich gleichgiltig, aber weiter schauende menschliche Freunde werden mich verstehen. – Was werden Sie nun sagen, wenn ich Ihnen verrate (was nur noch eine kleine menschliche Seele, die leider sehr ferne weilt, weiss), daß ich die drei Vorträge, nach denen Sie fragen, nicht mit angehört habe!!! – Jetzt schleudern Sie gewiss ein fürchterliches Anathema auf mein sündiges Haupt! Ja doch: 10 Minuten blieben für M-L.s Vortrag übrig, 5 Min. für Uhlenbecks ( Léons Vortrag verschlief ich)4. Beider Spanisch gefiel mir gar nicht; freilich erklang mir zum Vergleich fortwährend ein so reizendes ,Castellano‘, daß jede Konkurrenz aussichtslos war. |3| Wie unnachahmlich klingt z. B. adiós! (Ton auf dem ó mit Händwinken!) So was muss man erleben u. Gott sei Dank bin ich noch immer nicht zu alt dazu! Also ich bin wieder jünger geworden. Wie von Herzen hätte es mir meine geliebte Frau gegönnt, daß ich wieder Mut habe und froher in die Zukunft blicke. Wissen Sie, daß ich mich während der furchtbar trüben, trauervollen Monate Juni u. Juli oft still gefragt habe: Wie wird die Reaktion nach so entsetzlichem Drucke ausfallen u. wann wird sie kommen; daß sie käme, wusste ich; aber daß sie mit solcher Heftigkeit u. vor allem so schnell kommen würde – wer hätte das geahnt. Item – wir stehen ja alle unter unheimlichen Gewalten und ich habe gelernt mich zu fügen – irgend ein Meister spinnt ja doch dieses unbegreifliche Gewebe des Lebens.5

Doch genug davon, Sie möchten sonst ungeduldig werden.

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Anbei also die Bilder, über die ich selbst froh bin, was für eine unverwüstliche Urkraft liegt in Ihrem Bilde! Wollen Sie mir erlauben, daß ich eins an Spitzer, eins an Lacombe gebe (der mir ein lieber Freund geworden ist) und eins an Urquijo schicke (der mir doch innerlich am nächsten steht von den neuen Freunden in Spanien)6. Weitere Bilder gern zu Diensten. Und dann: ich soll Ihnen berichten vom Baskenlande: ja ex abundancia os tacet! Blauer Himmel, Farrenkräuter braun auf den Bergen, Eukalyptusduft, kraftvolle Männer, ernste, wundervolle Frauen (ach ja!) und überall Freunde, dies gut meinen – so bin ich wieder gesund geworden. Die Kinder bleiben in Ems und ich will weiter arbeiten und Spanisch sehr gut lernen und Baskisch studieren, so gut es geht. Jedenfalls lockt eine neue Welt; ich bin wieder ein Schiffer „auf grosser Fahrt“ geworden.

Her mit dem Ozean!

Immer Ihr alter getreuer
Urtel.

Bald einmal mehr. Schreiben Sie mir bald eine Karte? Bitte.


1 Vgl. den schwedisch verfassten Brief Marianne Urtels an Schuchardt vom 16.9.1922 (Lfd .Nr. 12314) aus dem Töchterpensionat Augustaheim in Bad Ems, mit dem sie sich für einen Ring bedankt, den Schuchardt ihr durch ihren Vater hatte zukommen lassen.

2 Vgl. Anm. 5.

3 Vgl. Lfd.Nr. 55-12306.

4 Wilhelm Meyer-Lübke, „ La organización de los estudios lingüistícos en la Universidad vasca “, III Congresco … 1922, 149-157; Christian Cornelius Uhlenbeck, „ Aglutinación y flexión “, ebd. 32-36; Albert Léon, „ El verbo sintético “ (47 S.).

5 Urtels Privatleben sorgte offenbar bei seinen Kollegen für Gerede. So schreibt Leo Spitzer am 13.1.1926 an Schuchardt (Lfd.Nr. 430-11184; ed. Hurch, 2006, 387): „Urtel’s Maupassant ruht dort wo die übrigen Dinge, die er versprochen hat: Θεῶν ἐν γούνασι. Jacobsohn berichtet, daß er, statt den Maup. fertig zu schreiben, im vorigen Sommer vorgezogen habe ihn zu leben: d.h. ein Rendezvous mit einer Studentin irgendwo 7 Tage lang abzuhalten. Relata refero“.

6 Schuchardt schreibt am 30.10.1922 an Urquijo: „Urtel schrieb mir daß er Ihnen eine Photographie die er von mir im August aufgenommen hatte, schicken werde. Sie ist, wie alle Bekannten die sie gesehen haben, urteilen, sehr getroffen. Ich wurde durch den photographischen Angriff überrascht, konnte mich aber nicht dazu ,herrichten‘”. Das Foto ist reproduziert in der Hurch’schen Ausg. des Briefwechsels Spitzer-Schuchardt, 2006, als Abb. 15 zu S. 261.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 12307)