Hermann Urtel an Hugo Schuchardt (45-12296)

von Hermann Urtel

an Hugo Schuchardt

Hamburg

04. 02. 1921

language Deutsch

Schlagwörter: 80. Geburtstag Morf, Heinrich Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von Diels, Hermann Paris, Gaston Gauchat, Louis Tappolet, Ernst Spanien

Zitiervorschlag: Hermann Urtel an Hugo Schuchardt (45-12296). Hamburg, 04. 02. 1921. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2016). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.4544, abgerufen am 22. 09. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.4544.


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Eilbecktal 9. 4. Febr. 1921

Mein lieber verehrter Herr Professor!

Data sind gewiss nur äussere Denkformen – und doch was für eine Fülle des Lebens und Forschens liegt hinter Ihnen, die arme Worte so unzureichend feiern können. Wie kostbar ist das Gefühl Sie lebend und schaffend zu wissen, wie dankbar wollen wir dem Geschick sein, daß es uns Arbeitenden Ihre Führerschaft, die so notwendig ist auf neuen Wegen in der Wissenschaft, gönnt. Heute zu Ihrem achtzigsten Geburtstage begrüsse ich Sie und umarme Sie lieber väterlicher Freund in der alten Verehrung und lege warme Segenswünsche in Ihre Hand! – Ich kehre zurück aus Berlin, wo ich einige |2| Tage der Vorbereitung für eine Sommerreise nach Spanien gewidmet habe.

Und dort sollte ich nun wieder so sehr an die Zeiten des gemeinsamen Arbeitens mit Morf erinnert werden, der in jenen Tagen von dieser Welt schied. Ich betrat zum ersten Male wieder sein Arbeitszimmer im Rom. Seminar, in jenem Palais am Kaiser Franz Joseph Platze – wo jetzt Wechssler und Lommatzsch1 regieren.

Am Tage seiner Einäscherung aber – es war am 27. morgens feierte ich in unserem Arbeitszimmer in der Staatsbibliothek – ganz still und eigenartig sein Gedächtnis. Ich nahm mir die phonographische Platte, die er uns gesprochen hat – Sie wissen, es ist von unserer Kommission ein Stimmenmuseum bekannter |3| Führer und Gelehrten der Kriegszeit geschaffen worden, in das auch Morf eingereiht worden ist2 – neben Wilamowitz, Diels3 u.a. – Da hörte ich nun, während er auf der Bahre lag, seine lieben Worte, die Einleitung eines Kollegs zur fr. Literatur des 18. Jahrh.‘s, die er 1916 gehalten, in dem er sich beruft auf seinen Lehrer Gaston Paris, der einst in den Mauern von Paris während der Belagerung die Wissenschaft pries, die sich über dem Kampf der Parteien aufbaut. Seine Worte, seine knorrige kräftige Art waren mir fast schreckhaft deutlich nahe – verba magistri manent in aeternum. Daß diese Geräusche so mystisch tief greifen können, daß der ganze wundervolle seelische Kosmos |4| in Erinnerung leibhaftig neugeboren in die Erscheinung tritt; daß da irgend etwas Seelisches ins organische Material mit eingegraben sei, davon kommt man nicht los! Die Welt in den grossen Einzelpersönlichkeiten begreifen, das ist immer wieder der Sinn meines inneren Lebens! Wie gerne gäbe ich Zeugnis davon, was ich in ihm gesehen habe; freilich anders als Gauchat u. Tappolet das in den Schweizer Zeitungen taten, die sie mir sandten!4 Daß sie ihm das Manifest der 93 auch übers Grab nicht verzeihen, scheint mir kleinlich!

Nun noch tausend Dank für Ihren langen schönen Brief, der mir sovieles deutete und lange nachwirkend mir Ihre seelische Kraft nahebrachte! Möge sie mir auch weiterhin Vertrauen und Kräfte neu beleben können. Ich grüsse Sie am heutigen Abend innig und dankbar

Ihr getreuer
Urtel.

[am Rand von S. 1 u. 4] Ein schwedisches kl. Bücherpaket geht morgen an Sie ab! Jetzt wogen unsere Gedanken aus der abendlichen warmen Arbeitsstube hinüber zu Ihnen ins Murtal. Viele Grüsse auch von meiner Frau


1 Eduard Wechssler (1896-1949), seit 1920 Morfs Berliner Nachfolger; Erhard Lommatzsch (1886-1975) hatte nach seiner Habilitation 1913 seinen Lehrer Morf bis zur Berufung Wechsslers vertreten.

2 Laut digitalisiertem Inventar des Lautarchivs der HU Berlin handelte es sich um die Einleitung seiner ersten Vorlesung im Krieg am 29.10.1914. Das Original trug die Sign. Heinrich Morf, Vorlesung – Aut 12, ist aber heute verloren. Erhalten ist nur ein zweiseitiger Lebenslauf.

3 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff (1848-1931), klassischer Philologe, von 1897-1921 Professor in Berlin; Hermann Diels (1848-1922), ebenfalls klassischer Philologe, seit 1886 Berliner Ordinarius. Von Wilamowitz ist eine Aufnahme „Gedanken über das alt-philologische Studium“ vom 27.7.1917 im Lautarchiv der HU Berlin erhalten (Sign. Aut 3/1-3).

4 Louis Gauchat, NZZ Nr. 122, 25.1.1921 ; Tappolets Nachruf konnte nicht nachgewiesen werden.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 12296)