Hermann Urtel an Hugo Schuchardt (34-12285)
von Hermann Urtel
an Hugo Schuchardt
06. 03. 1918
Deutsch
Schlagwörter: Romania (Zeitschrift) Rätoromanische Sprachen
Sardisch
Italienisch
Spanisch
Baskisch Wagner, Max Leopold Morf, Heinrich Papanti, Giovanni Jud, Jakob Schuchardt, Hugo (1893)
Zitiervorschlag: Hermann Urtel an Hugo Schuchardt (34-12285). Limburg an der Lahn, 06. 03. 1918. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2016). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.4533, abgerufen am 24. 09. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.4533.
Limburg a.d. Lahn Preuss. Hof [gestr. 25. Febr.] 6. März. 1918.
Lieber verehrter Herr Professor!
Ich hatte bereits einen Brief am 25. Febr. auf der Reise hierher verfasst, schreibe aber nun einen neuen, um Ihnen auch etwas von meinen Arbeiten zu erzählen. Ich bin wieder ein rollendes Rad, diesmal arbeite ich mit den Leuten, an die Sie Ihre Schrift „Aus dem Herzen eines R.“ gerichtet haben1. Ich hatte die Hoffnung, M.L. Wagner würde seine Inselbewohner vornehmen, aber es ist zu schade, er hat zu viel zu tun u. offenbar keine rechte Lust. Morf hatte projektiert mitzukommen, aber er muß sich vom Semester erholen; wie wichtig wäre mir seine Teilnahme gewesen. Nun ruht wieder alles auf mir. Ich bekomme in meiner Abteilung, die ich ja eigentlich ganz selbständig aufbaue, alle neun Sprachen. Ich habe mich mit Papantis Texten geradezu vollgestopft (schon der Name klingt so hübsch sättigend!)2 Haben Sie schönsten Dank für Ihre freundl. Karte als Antwort auf meinen Geburtstagsgruß u. für die Übersendung des Sonderabzugs –
6. April Stolberg. (Harz)
Wahrhaftig ein Monat ist verflossen, daß dieser Brief be- |2| gonnen wurde, ich habe 3 Wochen eine reiche Beute eingeheimst und bin dann über 14 Tage recht krank gewesen – schwere Mandelentzündung mit 40° u. das macht so furchtbar matt. Seit heute beginne ich wieder – eben habe ich den ersten Brief an Morf geschrieben – der zweite soll endlich Ihnen gelten. Verzeihen Sie, daß er so spät erst kommt.
Nun zur Besprechung.3 Bei aller Ablehnung im Tatsächlichen bin ich doch so sehr erfreut und dankbar für den freundlich aufmunternden Unterton gewesen und vor allem für das Vertrauen, das Sie überhaupt in meine Art des φιλολογεiν setzen. So was tut mir so not! Noch immer wieder packen mich Zweifel an der Existenzberechtigung meines wiss. Arbeitens im Allgemeinen. Aber Sie wollen gern, daß ich ein wenig vom Ziel abschwenke? Ich war immer der Meinung, daß ich für alles Kulturhistorische etc. besser passe, als für die reine Linguistik. Phonetik als Selbstzweck ist mir im Grunde schrecklich. Aber die romanische Psyche – mag sie sich jetzt auch wenig vor- |3| teilhaft zeigen – oder vielmehr der romanische Synkretismus lockt mich am meisten. Jud hat der Romania eine Besprechung eingesandt u. bezweifelt fast dieselben Einzelpunkte.4 Nun, es wird gewiss an den Zweifeln vieles berechtigt sein. Aber die Gesamtidee stürzt damit nicht, ebenso wenig wie die Ortsnamen? Ihnen persönlich darf ich als Entschuldigung sagen: ich arbeite hier so gut wie ganz ohne lexikolog. Apparat! Meine Bücher stehen in Hamburg u. die Sem. Bibl. Toblers in Berlin ist an Dialektwörterbüchern nicht reich.
Ich muss nun gewiss noch Keltisch lernen u. vieles mehr: Sie müssen denken, ich habe die letzten zwanzig Jahre Jungens gedrillt u. hoffe die nächsten – die mir Gott noch schenken möge – wissenschaftlich zuzubringen. Ich baue ja immer noch in die Luft „uff d’Allmende“ wie der Elsässer sagt.
In Limburg habe ich fabelhaft viel gelernt. Geradezu erschüttert hat mich die Kenntnisname des sardischen εnąrpa = Freitag!? apuɗanni = September (also wie im Orient Jahresanfang im Herbst!) Und dann |4| das ist ja derselbe Ton wie im Spanischen, dieselben Palatal-š wie im Baskischen. Mittelmeerkultur? Nächstens bekomme ich den Apparat.5 Dann gehts an die baskischen Accente! Auf Ihre bask. Gespräche mit Kommentar bin ich höchst gespannt. Eben fresse ich mich durch Ihre bask. Bezugsformen hindurch6. Eine schwere Lektüre trotz meiner eigenen Anschauung.
Für heute genug. Ich bin noch sehr erschöpft.
Von Herzen alles Gute in Dankbarkeit u. Treue
ihr
Urtel
Hoff. trifft Sie dieser Brief wohl an.
Möge der milde Frühling im Murtale auch Ihnen wohltun! Bald hören Sie wieder von mir.
1 Gemeint sind die Italiener. – Die italienischen Aufnahmen im Lautarchiv der HU Berlin stammen z.T. aus der Schweiz, auch werden Rätoromanisch und Sardisch nicht immer vom Italienischen getrennt.
2 Giovanni Papanti, I parlari italiani in Certaldo alla festa del V centenario di messer Giovanni Boccaccio, Livorno 1875. Papanti (1830-1893) war ein Privatgelehrter, der Dialektversionen italienischer Volks- und Hochliteratur sammelte.
3 Vgl. Anm. 4 zu Lfd. Nr. 26-12277.
4 Die Besprechung Juds ist im AR 2, 1918, 238-241, nicht in der Romania, erschienen.
5 Um welches Aufnahmegerät es sich handelt, wissen wir nicht. Im Lautarchiv finden sich ein Phonograph mit Deckel und Trichter bzw. einer mit Wachswalze, wobei der letztere am ehesten in Frage kommt.
6 „Baskische Studien I. Über die Entstehung der Bezugsformen des baskischen Zeitworts“, Denkschr. der Wien. Akad. 42, III, 1893, 1-82.