Hermann Urtel an Hugo Schuchardt (28-12279)

von Hermann Urtel

an Hugo Schuchardt

Kassel

29. 03. 1917

language Deutsch

Zitiervorschlag: Hermann Urtel an Hugo Schuchardt (28-12279). Kassel, 29. 03. 1917. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2016). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.4526, abgerufen am 31. 05. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.4526.


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Cassel-Wilhelmshöhe. Schloßteichstr. 7.
29.III.17.
abgesendet 1.IV.17.

Lieber Herr Professor!

Mit Freude und Dank habe ich Ihren inhaltsreichen Brief vom 7.III. gelesen, der mich während einer sehr anstrengenden Expedition nach Münster i. Westfalen am 16.III. erreichte. Ich war dort mit eifrigen Studien bei den Creolen von Martinique und Gouadeloupe beschäftigt; auch da kommt mancherlei heraus. Sie können sich denken, wie froh ich bin, an der Hand Ihres Schriftenverzeichnisses Ihren Spuren nachwandeln zu können. Wie gerne hätte ich Ihnen hunderterlei Dinge vorgelegt, aber das Menetekel: „weil zu lang Beförderung verzögert“ will ich nicht wieder herausfordern. |2| Ihre Anmerkungen waren mir sehr wertvoll, und ich freue mich, daß Sie mich nicht ,en somme‘ verdammen.

Meine Schreibung der Zischlaute suche ich den akustischen Tatsachen, die dauernd an mein Ohr klingen, anzupassen. Ich höre im Labourdischen von Arcangues 1.) s (=gewöhnl. bask. geschr. z), das dem spanischen s an Schärfe gleichkommt. sumįa ,Weide‘. 2.) ∫ (gewöhnl. bask. geschr. s), das zwischen s und š steht, wobei die Zungenspitze der hinteren Seite der Oberzähne zur Engebildung genähert wird und leicht an die vorderen Alveolen anschlägt: dεu∫ ,nichts‘ etc. 3.) ∫‘ ein š, wobei die Zungenspitze oben an die Gaumenwölbung angelegt wird: ,pilatų∫‘ (selten und nur im Auslaut beobachtet) (Pilatus) |3| Wenn ich es recht verstanden habe, leiten Sie alto amurro ,onglée‘ aus dem bearnes. ab und dieses gehöre wieder mit span. modorra zusammen. Aber soll das auf dem ganzen auch dem span bask. Gebiete auftretende ,amurru‘ etc. denn aus Südfrankr. stammen?

Bei garrits und den entsprechenden harits würde ich an eine durch harri ,Stein‘ (vgl. Steineiche) beeinflusste Doppelform *harrits denken. Ist Ihnen eine solche je begegnet? Das anl. g würde keine Schwierigkeiten machen, vgl. garok Karte 1161 P. 695 zu bask. lab. harrǫka ,Fels‘.

In dem Wort tšarre ist mir Ihre Deutung tšo(ri)arre sehr einleuchtend, aber auch in širok P. 684 u.ä. wird doch wohl ein im letzten Grunde mit tšori zusammenhängender Stamm vor- |4| liegen. Ich kann darin nicht nur Schallnachahmung sehen (vgl. tširita Azk. bergeronnette, auch tširibia etc. ,papillon‘, wo dies Moment ganz wegfällt).

ander ,Klatschrose‘ erklärt sich mir begrifflich durch das Spiel der Kinder die die Blütenblätter herabbiegen u. ein ,Fräulein mit rotem Rock‘ darunter suchen; zahlreiche Kinderstrophen u. Namen wie demoiselle etc.

Sehr dankbar wäre ich Ihnen, wenn Sie mir gelegentlich über die Ortsnamen, die ich  angab, Ihre Ansicht schreiben wollten. Und dann: ob ähnliches wie „Lautakkord“ und „Gruppenthema“ schon behandelt worden ist?

Meine ,Anschrift‘ (für mein Empfinden ein scheussliches Wort. ich sehe dabei meine Adresse immer mit Kreide auf dem Buckel!) ist nach Ostern dauernd Stolberg Harz Preuss. Hof. –

Frau u. Kinder bringe ich morgen nach Schweden, bis Warnemünde reise ich mit. – Ihren Milzaufsatz1

Herzl. Gruß u. Dank Ihr
Urtel


1Zu den romanischen Benennungen der Milz“, SB d. Berl. Akad. d. Wiss. 1917, 156-170.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 12279)