Hermann Urtel an Hugo Schuchardt (27-12278)
von Hermann Urtel
an Hugo Schuchardt
25. 02. 1917
Deutsch
Schlagwörter: Vossler, Karl München Schuchardt, Hugo (1917) Azkue Aberastur, Resurrección María de (1905–1906) Schuchardt, Hugo (1905)
Zitiervorschlag: Hermann Urtel an Hugo Schuchardt (27-12278). Stolberg, Harz, 25. 02. 1917. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2016). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.4525, abgerufen am 05. 10. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.4525.
Stolberg i. Harz 25.II.17.
Lieber Herr Professor!
Ihre Sendung – enthaltend die „Berb. Hitatustilgung“ und die inhaltsreiche Besprechung von Saussures Cours. ling.1, die Sie als ,ketzerisches Testament‘ bezeichnen – ebenso Ihre Karte hat mich hier, wo ich tief in bask. Studien in diesem Bergstädtchen im Schnee sitze, viel Freude gebracht. Herzlichen Dank dafür. Meine Basken sitzen 6 km talabwärts auf einer Sägemühle und ich arbeite nun schon 14 Tage jeden Nachmittag 4 Stunden mit ihnen und wandere dann – geistig verarbeitend, was ich gelernt – das herrliche Tal abends wieder herauf. Ich hoffe das noch längere Zeit fortsetzen zu |2| können, bis eine neue Expedition diese Studien wieder unterbricht. –
Ich habe natürlich sehr viel auf dem Herzen und Gedrucktes oder Geschriebenes von Ihnen liegt täglich vor mir. Ihre Warnung zur Vorsicht mit dem Iberischen in Südfrankreich will ich gewiss beherzigen. Meine Feststellungen beziehen sich bisher nur auf den Wortschatz und auf die Ortsnamen. Ich würde Ihnen sehr dankbar sein, wenn Sie mir einmal sagen wollten, ob Ihnen die im folgenden skizzierten Ausführungen meiner Arbeit nicht zu gewagt erscheinen.
Von dem Ausdruck: amurrǫ ,onglée‘ Atlas Karte 1646 Punkt 692 (Bass. Pyr.), das wohl erst ein |3| neueres Lehnwort aus dem Bask (Azk. ,rage‘ ,indisposition‘2) ist komme ich zu dem Wort für chêne K 265 gārits gorits gorit, das sich über Ariège, Aude, Tarn, Hte Garonne Aveyron, Tarn et Gar., Lot ja bis Cantal u. Corrèze hinzieht und das ich von lab. haritsa soul. haitša nicht trennen möchte; ich weiss wohl, das kelt. Concurrenz vorliegt, aber die Endung weist doch nach dem Iberischen? Klarer noch scheint mir die Sache bei moineau. Weist schon Rolland, Flore II 156 mit acharat nach dem Süden, so scheint mir Atlas K 866 750 tšare (auch P 659, 752) auf tšori (Azkue: ∫oarre ,gorrión‘); auch Bass. Pyr. 691 širǫt u. ähnl. in Landes (passer + tsori) [vgl. Azkue: Tširita bergeronnette, ferner tširrin u.a.] u. Gironde bilden eine Gruppe, die von bask. tšori stammen müssen (r u. r̄ wechseln so oft in mir unklarer Weise) |4| eine dritte Gruppe weist im Atlas bis ins Dép. Hte Loire (813, 814, 815). – Klar scheint mir auch der Zusammenhang von lab. sumia ,Weide‘, das Sie einmal selbst [ich weiß nicht mehr wo / doch Zt. 29, 565]3 als echt iberisches Wort erklärt haben, mit šįmye K 955 (osier) P. 719 im südl. Cantal, mit prov. simarra chimarro bouteille (Mistral) (aus Weidengeflecht?) etc. – Iberischen Ursprungs ist auch gaspo ,petit lait‘ zur Wurzel gas- in lab. gažna etc., weit reichend durch Südfrankreich. – ãndęr für coquelicot K 321P 618 712 628 617 711 etc. (also bis Dordogne u. Corrèze), was ja freilich auch im bask., wie ja wohl Uhlenbeck4 zuerst zeigte, kelt. Ursprungs sein kann, möchte ich auch erwähnen.
Auch auf dem katal. Gebiet von Roussillon finde ich iber. Reste: K 1440 P 795 pustiłųnaͤ ,argile‘ das ich für buztan-larra (Azk.) ,terre argileuse‘ halte; ebenso scheint mir K 766 B P (noch nicht notiert) sεrganta ,lézard’ mit lat. ∫organdįla (Hexentierlein) ,espèce de lézard‘ |5| zusammen zu gehören. Ähnliche Spuren habe ich bei der vollständigen Durchsicht des Atlas linguist. noch mehr gefunden. Nun habe ich gedacht, ob nicht vielleicht auch in einigen dem bask. Kernlande abgelegenen nördlichen Distrikten in den Ortsnamen sich mancherlei nachweisen lasse. Ich gehe dabei weiter hinaus als Luchaire5. Ein Name wie der von Ihnen als ,ibai-gorri‘ gedeutete: Bigorre findet sich ausser in Girdone, Ariège auch 2x in Aude, einmal (neben Bigouroux, das wohl anders zu erklären ist) in Hte Loire, 2x in Dordogne. Von Gironde u. Ariège will ich bei dem reichl. Material absehen. Aber in Aude finde ich: L’Issaragual cne de Narbonne, Bigarrats neben einem anderen Orte Bugarach (bi-garratš, deux houx?) Amurenchi (Forellenbach?), Garamentès (gara +mendi) Ichalabada (zu itsąla ombre? vgl. Iluno etc.) u. viele andere – |6| (ich zitiere nach dem Verzeichnis alter Formen in dem Dict. topogr. de l’Aude6 etc.) Sollte nicht auch: Espergazaing, dem ich in Bass. Pyr. ein Esperbasque gegenüberstelle esparru ,bergerie‘ enthalten? Und was ist gazaing? (gaskoin?). –
Aus Hte Loire lässt sich ebenfalls manches wie mir scheint absolut sichere nachweisen: Astorgues, Yvarras, Garmentes, Mendigolas, Iharanciacus (=Charencey) zu ,iharran‘ u.ä.
Aus Dordogne: Asturen, Bigaroca, Ruisseau de la Basque (Suppl. 348), Landegeyria, Gubelaria, Larmandia etc.
Aus Corrèze: Biscaye b. Brive.
Ich habe eine synoptische Karte gezeichnet, aus der die Einflusssphäre des Iberischen |7| deutlich erkennbar ist.
Scheint Ihnen das alles nicht zu ,ketzerisch‘? Dann arbeite ich eben eine Abhandlung aus über folgende Erscheinung: (ich wäre sehr dankbar, wenn Sie mir sagen wollten, ob darüber irgendwo schon gehandelt ist, denn ich überblicke nur zu wenig Literatur bisher):
1. Das Mittel Begriffe gegensätzlicher Bedeutung durch eine Art ,Lautakord‘ zu bilden, verfolge ich: atso ,gestern‘ etsi übermorgen ošąba ,onde‘ isąba ,tante‘
Also ein clopin + clopant semantisch ausgebeutet (dester – senester verwendet im Gegenteil Gleichklang zu gegensätzlicher Bedeutung).
2.) Das was ich ,Gruppenthema‘ nenne: bεhia Kuh bεhorra ,jument‘
Das geht ungeheur weit in der Sprache; nur weiter I8I zusammenhängende Begriffe werden durch ein und denselben Stamm gebunden. Ist das ein hohes Alterszeichen? ,Kuh, Stute‘ andrerseits ,Krähe, Sperber, Rabe Falke‘; auch Stämme innerhalb des Wortes z.B. -aŋk, iŋk- bei ,wiehern, brüllen, grunzen‘ Sie haben ähnliches einmal vor Jahren (wo?) im ,Littblatt‘ meine ich über – tonitru – auseinandergesetzt.
Ihr Verzeichnis der Druckschriften ist mir stets von höchstem Wert! Ich completiere es in Kleinigkeiten: z.B. sind mir die Miscellen aus der ,Euskara‘ wichtig. Übrigens Herrn Linschmann7 habe ich in Meiningen besucht; das war eine Freude! Ich möchte ihn hierher einladen, damit er einmal lebendiges Baskisch hört.
Wie dankbar höre ich Ihre Auseinandersetzungen in der Besprechung Saussures zu; Sie sind mir aus der Seele geschrieben! Vossler besuchte ich vor 14 Tagen in München. An dem hänge ich sehr! Ihnen wünsche ich von Herzen alles Gute in dieser rauhen Zeit. Meine Adresse ist weiter Wilhelmshöhe Schloßteichstr. 7.
In herzl. Verehrung Ihr
Urtel
1 „Anzeige von: F. de Saussure, Cours de linguistique générale“, LB f. germ. u. rom. Philologie 38, 1917, 1-9.
2 Urtel bezieht sich auf R.M. AzkuesDiccionario Vasco- español-francés, Bilbao 1905-1906.
3 Urtel bezieht sich auf Schuchardts Veröffentlichung „Ibero-romanisches und Romano-baskisches“ aus dem Jahr 1905, Zeitschrift für romanische Philologie Bd. 29: 552-565. Brevier/Archiv Nr. 496.
4 Christianus Cornelius Uhlenbeck, Baskische Studien, Amsterdam 1892.
5 Achille Luchaire, Les communes françaises à l’époque des Capétiens directes, Paris 1911.
6 Antoine Sabarthès, Dictionnaire topographique du département de l'Aude comprenant les noms de lieu anciens et modernes, Paris 1912.
7 Theodor Linschmann (1850-1940), Pfarrer, Bibliothekar und Baskologe, der eng mit Schuchardt zusammenarbeitete, vgl. Brief Lfd.Nr. 12889. Schuchardt & Linschmann (1900) hatten die monumentale Leiçarraga-Ausgabe besorgt (Brevier/Archiv Nr. 353). Vgl. Brief 38-12289.