Hermann Urtel an Hugo Schuchardt (24-12275)

von Hermann Urtel

an Hugo Schuchardt

Berlin

29. 06. 1916

language Deutsch

Schlagwörter: language Baskisch Morf, Heinrich Schuchardt, Hugo (1923) Schuchardt, Hugo (1915)

Zitiervorschlag: Hermann Urtel an Hugo Schuchardt (24-12275). Berlin, 29. 06. 1916. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2016). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.4522, abgerufen am 28. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.4522.


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Berlin SW. Wilhelmstr. 34.
29. Juni 1916.

Sehr verehrter Herr Professor!

Zwei Briefanfänge liegen vor mir, die zu einem Briefe werden sollten, der eine vom Anfang April der andere vom Mai – endlich heute werde ich in Ruhe meinen Gedanken, die bei meinen baskischen Studien täglich zu Ihnen gegangen sind, die schriftliche Form geben können. Ich bin in diesem Frühjahr ausserordentlich viel herumgereist; eben kehre ich von Aufnahmen in Chemnitz und Wittenberg zurück. Wie gern erzählte ich Ihnen ausführlich von unserer Arbeit. – Prof. Morf hat einen Teil der Arbeit mit übernommen, leider hat er jetzt 14 Tage ganz ruhen müssen, da ihn eine recht schwere Gallenblasenentzündung ans Bett gefesselt hielt; Gottseidank macht jetzt seine Besserung gute Fortschritte; ich werde ihn morgen besuchen dürfen.

|2| Nun also zum Baskischen. Die Ausbeute in Merseburg war sehr reich; wir haben dort 17 baskische Stücke auf Platten gebracht; Lieder vor allem darunter je einmal in soulischem und labourdinischen Dialekt das bekannte: „Où es-tu ma bienaimée?“ ferner „adieu étoile“, „la Fête de Briscous“, „le mulet du charbonnier“1, die „foire des Bohémiens“ „jolie colombe“; auch eine poetische Version der 4 Haimonskinder und Übersetzungen des Verlorenen Sohnes u.a.2

Wie Sie mir geraten haben, habe ich mich vor allem in einen Dialekt hineingearbeitet: ins Labourdinische und nach Darthayets Guide Français-Basque 4. Aufl. und nach van Eys Grammaire comparée studiert.3 Aber die Sache ist doch recht dornenvoll; alles mag noch gehen, aber das Verbum! Man kommt ja gar nicht mit |3| „europäischen“ Begriffen durch. Ich hoffe jetzt hier in der Nähe ein „Baskenlager“ für Studienzwecke zu bekommen, denn ich kann da fruchtbringend und durch fortwährenden persönlichen Verkehr arbeiten. Hätten wir doch Ihre baskische Grammatik; man bedarf so sehr nötig eines durchdringenden Werkzeuges. Darf ich so unbescheiden sein zu fragen, ob wir dieses von mir sehnlichts herbeigewünschte Werk in absehbarer Zeit erhoffen dürfen?4 Dabei möchte ich Ihnen nochmals herzlich für Ihre Sonderabdrücke danken. Bei jedem Male neuen Studiums gewinnen sie neues Leben. Man hat so oft das Gefühl beim Baskischen, als ob man in Kratertiefen hinabschaute. Ich verfolge eben etwas wie weit im Gebirgsmassiv der Auvergne baskischer Untergrund noch sichtbar |4| ist. Wir hörten neulich einen echten Auvergnaten seine tollen Tanz- und Arbeitslieder singen und man hatte den Eindruck: das ist durchaus „Afrika“. Jedenfalls etwas Grundverschiedenes gegen Nordfrankreich. – Ich bin dankbar, daß ich durch diese Arbeiten in den Lagern ein Privatissimum in allen französischen Dialekten erhalte; aber auch vom Corsischen habe ich die schönsten Aufnahmen. Darf ich Sie wohl bitten, daß Sie mir die Schrift „Aus dem Herzen eines Romanisten“, die ich gern aus Ihrer Hand erhielte, zusenden möchten?5 Schönsten Dank im voraus. Und bitte gedenken Sie freundlichst meiner bei neuen Aufsätzen mit einem Sonderabzug. Sie wissen, wie dankbar ich dafür bin.

Mit besten Grüßen und Wünschen

Ihr

H. Urtel.

Wie schade, daß ich tausend Fragen, die ich an Sie hätte, unter den augenblicklichen Verhältnissen nicht stellen darf!


1 Berlin, HU Lautarchiv, PK 125/2.

2 Berlin, HU Lautarchiv, PK 92/1-PK 97 (labourdinische Lieder in der Aufnahme Urtels); PK 100; PK 1098-1101 (Der Verlorene Sohn); PK 1082-83, 1094-95, 1101, 1103 (Erzählungen), PK 1085 (Gespräch).

3 J.-P. Darthayet, Guide ou manuel de la conversation et du style épistolaire français-basque: précédé de quelques notions, présentées en tableaux, sur la construction de la langue basque = Guidaria edo escu liburua francesez eta escuaraz mintztzen eta letra eguiten ikhasteco, Bayonne 1893; Willem J. van Eys, Grammaire comparée des dialectes basques, Paris 1879.

4 Die Primitiae linguae Vasconum. Einführung ins Baskische sind 1923 in Halle a.S. erschienen; vgl. Anm. 88 u. 197.

5 Graz 1915.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 12275)