Hermann Urtel an Hugo Schuchardt (13-12264)

von Hermann Urtel

an Hugo Schuchardt

Hamburg

03. 11. 1913

language Deutsch

Schlagwörter: Universität Hamburg Voretzsch, Carl Hoepffner, Ernst Jud, Jakob Spitzer, Leo Portugal Schuchardt, Hugo (1913)

Zitiervorschlag: Hermann Urtel an Hugo Schuchardt (13-12264). Hamburg, 03. 11. 1913. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2016). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.4510, abgerufen am 03. 10. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.4510.


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Hamburg Eilbecktal 5 3 Nov. 1913.

Hochverehrter lieber Herr Hofrat!

Heute ist bei mir wieder eine schöne Schrift von Ihnen und damit wie stets – reiche dankbare Freude eingekehrt!1 Da nehme ich denn sofort einen Bogen zur Hand und schreibe Ihnen den Brief, der in Gedanken schon so oft verfasst wurde aber nie ins Rollen kam. Wie mir jede Zeile von Ihnen lebendig zuspricht, das habe ich eben wieder erfahren. Sie |2| lächeln vielleicht über den eben vierzigjährigen, der immer wieder als Kind oder doch Schüler sich vor Ihnen fühlt. Es sind mir aber so ,heimatliche‘ Saiten, die anklingen, wenn ich Ihre Schriften lese – ist es ein Zusammenklang von Thüringischem Geist und Liebe zum romanischen Süden, der auch mir in den Adern steckt?

Waren es vorher Hinweise auf das Baskenvolk und ihr Leben, so sind es diesmal Lockrufe ins Ladinerland, |3| die mir entgegen klingen und wahrhaftig, ich würde ihnen nachgehen, wenn ich Flügel hätte und nicht in einer Analphabetenvorstadt 43 Sextanern die Nasallaute mundgerecht machen müsste. – Und doch war es ein reiches Jahr, trotzdem wir den ganzen Sommer hier blieben, denn am 1. Aug. kam ein zweites liebes Töchterchen an.2 Seitdem dringen in mein stilles Arbeitszimmer holde Quäktöne aus dem Kinderwagen und wir können wohl oft das kleine Lied aus Estavayer |4| singen: Tota la né leva, Tota la né brẹssi,

Emprendre la tsandala, Por fère dou papé

Por nutron piti Dzatye.

Se Dzatye n’en vou ran

No l’bailyerem a Pyiru,

Se Pyiru n’en vole ran,

No l’medzerem no mimu! –3

Anfang Oktober kam nun der Philologentag in Marburg, unvergleichlich begünstigt von Wetter und Persönlichkeiten Da waren wir alle bei Wechs[s]ler zusammen, Voretzsch, Ebeling, Höpfner, Jud mein verehrter prächtiger Freund, und auch der kluge vielseitige Spitzer aus Wien.4 Leider musste ich die Frau zu Hause lassen, nur meinen kleinen besten Freund, die fünfjährige Marianne |5| konnte ich teilweise auf der Fahrt mitnehmen. Wir sprechen schon wie kluge Leute miteinander. Die meisten Sätze fangen bei ihr an: Ist das nicht merkwürdig, Papa … ? – z.B. daß manche Wörter zwei „Namen“ (ὄνομα!) haben: Die Tante reist ab und der Knopf reisst ab – das ist doch nicht dasselbe! So giebts Fragen auf Fragen. Auch mir drängen sich täglich Fragen auf, die ich Ihnen nun wieder vorlegen möchte! Vielleicht tue ichs doch mal und komme mal wieder nach Graz, um mit Ihnen, hochverehrter Herr Professor, wieder ein paar Stunden feiern zu |6| dürfen. Ob ich jemals das Glück haben werde, Erwachsene zu Schülern zu gewinnen (nach ,drüben‘ scheint die Aussicht mir verrannt!) ist ungewiss, um so glücklicher fühle ich mich selbst als ,erwachsener Schüler‘. Die Hamburgische Universität ist ja nun abgelehnt – ein brutaler Majoritätsbeschluss; indes kommen tut sie doch einmal, nur wann?

Meine Arbeiten gehen nur langsam, ich stehle mir die Zeit; aber jeder aufmunternde Gruss von wissenschaftlicher Seite tut mir wie ein |7| frischer Trunk; meinen Marburger Vortrag über die ,Gebärdensprache der Portugiesen‘ hoffe ich bald senden zu können.5

Doch ich habe Sie schon zu lange ennuyiert.

Meine Frau empfiehlt sich Ihnen aufs beste; wir lesen alles gemeinsam; vergessen Sie bitte auch weiter nicht unserer. Ich selbst grüsse Sie hier von dem Schreibtische, über dem mich Ihr kleines Bild freundlich anschaut,

in herzlicher Verehrung wie immer

Ihr

Hermann Urtel

Die Plauderei über Portugal bittet um Nachsicht!


1 An Theodor Gartner zum 70. Geburtstag (4. November 1913). Deutsche Schmerzen, Graz 1913.

2 Hermann Urtel war in erster Ehe mit der aus Eslöv (Schonen, Südschweden) stammenden Ruth Wirén (1885-1922) verheiratet; das Paar hatte zwei Töchter, Marianne (1908-1957) und Lilli / Lilly (geb. 1913); Marianne war später mit dem aus Königshütte OS stammenden Hans Ulrich Tichauer (1911-1977) verheiratet und wanderte 1933 mit ihm nach Porto Allegre aus. Grund für die Auswanderung war vermutlich Tichauers jüdische Abstammung.

3 Estavayer-le-Lac liegt im Schweizer Kt. Fribourg. Vgl. den vollständigen Text in: Nouvelles fribourgeoises. Almanach des villes et des campagnes 1879 , Fribourg 1879, 132.

4 Vgl. Anm. 1 zu Lfd. Nr. 12-12263. Die übrigen hier genannten Romanisten sind Karl Voretzsch aus Halle, Georg Ebeling aus Kiel, Ernst Hoepffner aus Jena und Jakob Jud aus Zürich.

5 Urtel sprach in der volkskundlichen Sektion der Marburger Versammlung deutscher Schulmänner und Philologen, vgl. Anm. 1 zu Ldf. Nr. 12-12263. Sein Beitrag ist enthalten in Beiträge zur portugiesischen Volkskunde, Hamburg 1928, und jetzt auch in: Ludwig Flachskampf / Hermann Urtel, Drei Studien zur Körpersprache der Romanen. Neu hrsg. von Reinhard Krüger, Berlin 2001; vgl. Anm. 6 zu Ldf. Nr. 10-12261.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 12264)