Sextil Pușcariu an Hugo Schuchardt (28-09072)

von Sextil Pușcariu

an Hugo Schuchardt

Törzburg

24. 08. 1923

language Deutsch

Zitiervorschlag: Sextil Pușcariu an Hugo Schuchardt (28-09072). Törzburg, 24. 08. 1923. Hrsg. von Luca Melchior und Katrin Purgay (2016). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.4449, abgerufen am 29. 11. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.4449.


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Bran, judeţul Făgăraş,
am 24 August 1923.

Hochverehrter Meister,

In die stille und herrliche Sommerfrische, wo ich seit Juli weile, wurde mir Ihr Aufsatz über "Individualismus"1 nachgeschickt, für den ich Ihnen meinen innigsten Dank und meine tiefe Bewunderung ausspreche.

Wer nur ein Gelehrter ist und sein will wird schwerlich ein anderes Ziel haben als "Schule" zu machen,2 gerade so wie er ein Schüler anderer Gelehrten ist. Nur ein Waiser, der aus der Fülle seiner Gelehrsamkeit auch die Früchte großer Erfahrung und Zweifel anderen zu schenken versteht, braucht nicht |2| um Schüler besorgt zu sein: er ist kein Lehrer sondern ein Meister, er formt keine Zöglinge sondern hilft selbständigen Denkern eigene Wege sicherer und mit größerer Freude zu beschreiten.

Daher der Dank den wir Ihnen für die Gaben schulden, die Sie uns mit jugentlicher Fruchtbarkeit schenken und die Bewunderung für die tiefe Waisheit die darin enthalten ist.

Ergebenst
Sextil Puşcariu


1 Schuchardt (1923a).

2 Schuchardt spricht sich im Individualismus strikt gegen Schulen aus (wie von Puşcariu 1959: 298 unterstrichen): "Die Lehre dient natürlich der Forschung, aber hindert und stört sie auch wiederum, und zwar tut sie das in ihren beiden Gestaltungen als Schule und als System. [...] Die allgemein herrschende Vorstellung ist wohl die, daß der Geist des Meisters sich auf die Schüler niedersenke, daß sein Lebenswerk in seinem Sinne von ihnen fortgesetzt werde. Dem ist in mehrfacher Hinsicht zu widersprechen. Nur Wissenschaft zweiten Grades kann der Meister seinen Schülern einpflanzen, nicht das Beste, den Kern seines Wesens; ja, gerade je eigenartiger ein Forscher ist, um so weniger vermag er eine Schule zu bilden und um so weniger wird er auch das Bedürfnis danach empfinden. [...] Ein jeder [...] sei nicht der Schüler eines Meisters, sondern vieler Meister, lebender wie toter [...] Schule bedeutet Einseitigkeit" (Schuchardt 1923a: 5). Vgl. zu dem Thema auch Schuchardts Briefwechsel mit Karl Vossler (Schwägerl-Melchior 2015: 193; 254).

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 09072)