Sextil Pușcariu an Hugo Schuchardt (15-09065)

von Sextil Pușcariu

an Hugo Schuchardt

Tirol

07. 11. 1916

language Deutsch

Zitiervorschlag: Sextil Pușcariu an Hugo Schuchardt (15-09065). Tirol, 07. 11. 1916. Hrsg. von Luca Melchior und Katrin Purgay (2016). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.4436, abgerufen am 28. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.4436.


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Tiroler Front,1 am 7. XI. 16

Hochverehrter Meister,

Soeben erhielt ich von meiner Frau2 einen Brief,3 in dem sie mir ganz entzückt von Ihrem liebenswürdigen Besuch erzählt.4 Nach alledem was ich ihr früher von Ihnen berichtet hatte, hat sie sich wahrscheinlich den Altmeister der Romanistik als einen zwischen seinen Wörterbüchern und Fischereigeräten eingegrabenen alten Herrn mit müdem Blick vorgestellt und war so angenehm enttäuscht, daß sie mir schrieb: "so mußt Du mit 75 Jahren sein!" Wie gern möchte ich auch nur ein Zehntel von dem sein!

Auch über Graz, mit seinen schönen |2| Spaziergängen ist sie ganz begeistert und von der lieben Aufnahme im Kreise unserer Bekannten aus der Czernowitzer Zeit. Freilich sind die Zeiten nicht danach, daß man jetzt die Schönheiten einer Stadt genießen könnte und auch ist eine Frau, die eigenen Haushalt hat, kaum mehr Herrin ihrer Zeit.

Dagegen haben wir hier, an der Front, leider zu viel Zeit. Ich hätte es nie gedacht, daß ich je mit meinen Stunden und mit meinen Tagen nicht wissen werde was zu beginnen.5 Und dennoch ist man hier oft zur gänzlichen Ruhe genötigt und da man auch das Grübeln, als etwas sehr wenig Tröstendes, schon lange aufgegeben hat, nimmt man das erste beste |3| Buch, das einem in die Hand fällt, und liest es von Anfang bis zu Ende durch. Manchmal bekomme ich von irgend einem Bekannten einen kleinen Sonderabdruck. Mit wahrer Begeisterung verschinge ich die Zeilen. Doch danach folgt immer der Katzenjammer: man wird angeregt, man möchte einen Gedanken weiter denken, ein Buch nachschlagen, irgend eine Notiz von früher suchen und an Stelle der Stellagen mit den wohgeordneten Zetteln und Büchern hat man um sich nur die Munitionsverschläge, die ihre einfache und nie zu mißdeutende Sprache sprechen.

Dagegen haben wir aber auch manche frohe Stunde. In der frischen Luft und lustiger Gesellschaft von jungen Kameraden fällt manches treffliche Wort und geschieht manche Tat, an |4| die man eine Freude hat. Aus Scherz hat manch einer gesagt: Wenn der Krieg noch lange dauert, laße ich mich als Landsknecht werben! –

In der Hoffnung, bei meinem nächsten Urlaub, Sie, hochverehrter Meister, in Graz wieder besuchen zu dürfen, verbleibe ich

hochachtungsvoll

Sextil Puşcariu Oblt.Deutlich lesbar sind nur die ersten zwei Buchstaben. Da Puşcariu aber im Dezember 1917 den Rang eines Hauptmanns hat (vgl. Lfd. Nr. 19), ist anzunehmen, dass es sich hier um die Abkürzung von Oberleutnant handeln soll.


1 1914-1918 diente Puşcariu in der österreichisch-ungarischen Armee. 1915 wurde er an die italienische Front berufen, zunächst in Friaul (vgl. die Erinnerungen und Briefe des rumänischen Autors in Puşcariu 1978: 61-123 ), dann Anfang Jänner 1916 nach Trientin (vgl. Puşcariu 1978: 123-145; 160-162 ).

2 Puşcariu war seit 1905 mit Leonora Dima verheiratet (vgl. Faiciuc 22000: XXVI ).

3 Laut Inventar von Faiciuc (22000) befinden sich keine Briefe von Leonora Puşcariu aus dem Jahre 1916 im Nachlass des rumänischen Sprachwissenschaftlers.

4 Puşcariu war selbst 1916 mit seiner Frau und den Kindern in Graz und besuchte dort Schuchardt, den er bei der Gelegenheit persönlich kennenlernte (vgl. die Erinnerungen dazu in Puşcariu 1978: 157-160 ). Seine Frau und die Kinder blieben in der steirischen Hauptstadt auch nachdem Puşcariu wieder an die Tiroler Front berufen wurde (vgl. Puşcariu 1978: 160-161 ).

5 Auch andere Kollegen, die eingezogen wurden, vermissten an der Front ihre gewohnte geistige Arbeit, so z.B. Karl Vossler, der Schuchardt am 12.02.1915 aus der Nähe von Straßburg schrieb: "Der Dienst ist hier etwas eintönig, zuweilen aber auch wieder sehr interessant. Auf alle Fälle bekommt er mir ausgezeichnet u. ich hoffe, daß später der ausgeruhte Kopf nur frischer wieder arbeitet" (UB Graz Nr. 12534, bearbeitet in Schwägerl-Melchior 2015: 215).

6 Deutlich lesbar sind nur die ersten zwei Buchstaben. Da Puşcariu aber im Dezember 1917 den Rang eines Hauptmanns hat (vgl. Lfd. Nr. 19), ist anzunehmen, dass es sich hier um die Abkürzung von Oberleutnant handeln soll.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 09065)