Hugo Schuchardt an Sextil Pușcariu (07-s.n.4)
von Hugo Schuchardt
07. 02. 1908
Deutsch
Schlagwörter: Universitätsbibliothek Graz Etymologie Königlich-Preußische Akademie der Wissenschaften (Berlin) Latein
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Italienisch Weigand, Gustav Ludwig Darmesteter, Arsène/Hatzfeld, Adolphe (1890–1900) Littré, Emile (1873–1885) Grimm, Jakob/Grimm, Wilhelm (1854–1961) Schuchardt, Hugo (1908) Schuchardt, Hugo (1908)
Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Sextil Pușcariu (07-s.n.4). Graz, 07. 02. 1908. Hrsg. von Luca Melchior und Katrin Purgay (2016). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.4428, abgerufen am 03. 10. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.4428.
Graz, 7 Febr 1908
Geehrter Herr Kollege!
Von meinem letzten Brief dürfen Sie jeden beliebigen Gebrauch machen; nur bitte ich auch Andern gegenüber zu bemerken dass er – weil rasch geschrieben (wie auch dieser sein wird) – sehr nachlässig in der Form ist.
Ihr Verhältniss zu Ph.1 und D.2 hatte ich mir ungefähr so vorgestellt wie Sie es mir in der Tat auseinandersetzen. Ersterer schickte mir vor einiger |2| Zeit eine polemische Schrift3; ich habe ihm, gegen meine Gewohnheit, nicht dafür gedankt, weil ich dem Danke eine sachliche Bemerkung hinzuzufügen pflege und in diesem Falle das nicht zu tun wusste.
Zunächst ein Wort über Etymologieen. Man sollte diejenige welcher man nicht zustimmt, ohne äussere Nötigung (z.B. der Rezension) nicht bekämpfen ohne dass man eine andere der eigenen Ansicht nach bessere an die Stelle setzt. Denn entweder ist jene so schlecht dass jeder Fachmann sie ohne weiteres zurückweist, oder sie ist wohl möglich und da kommt es eben darauf an das Mögliche |3| durch das Wahrscheinlichere zu überbieten. Was die Freiheit in bezug auf das Etymologisieren anlangt, so bin ich durchaus Ihrer Ansicht. Die etymologische Partie des Dict. gén. ist seine "partie honteuse", allerdings nicht bloss wegen des allzuhäufigen "origine inconnue", sondern auch wegen sehr vieler Fälle, in denen dies "origine inconnue" eher am Platze gewesen wäre als die vorgebrachte Etymologie. Ich habe, bei aller Anerkennung der grossen Vorzüge dieses Werkes, das zu wiederholten Malen in der Ztschr. hervorgehoben4, auch brieflich gegen Gaston Paris5, was dann wohl eine kleine Verstimmung in Etymologicis gegen mich hervorgerufen hat6. Ganz aus dem Subjektiven kommen wir auch hier nicht heraus.7 Der Forscher soll geben was er selbst für sicher hält, ja auch nur für wahrscheinlich. Die Autorität muss ausgeschaltet werden. |4| Zwanzig Jahre hindurch habe ich meine Gleichung matifatius { mauvais für sicher gehalten8, trotz G. Paris9 der ja meist das Richtige fühlte wenn er es nicht erkannte. Und wiederum hat wohl Niemand obwohl Ascoli10 unser aller Meister war, sein indarno = invanus11 angenommen. Es kommt alles auf die Begründung an, und wenn man nur tief genug geht, wird man wenn nicht sich verständigen, so doch wenigstens nahe kommen. Auch ich halte D.s. gelegentlich Ihrer Herleitung von încurca gebrauchten Ausdruck operaţiunide măcelar12 für ganz unberechtigt; freilich habe ich selbst mehrfach ganz analoge Operationen vorgenommen. In dieser Hinsicht würde ich gegen Ihre Deutung nicht nur Nichts einwenden, sondern sogar Weigands Urteil13 billigen. Aber – dies nur beiläufig, ich habe mich mit dem Worte nicht weiter beschäftigt – ein Bedenken ist mir |5| gekommen, und zwar, wie Sie wohl ahnen werden, ein semasiologisches. Descurca, încurca bed. "entwirren" "verwirren" = débrouillerembrouiller, nicht, so viel ich sehe "aufhellen" "verdunkeln" im eigentlichen Sinn. Doch würde ich, dem ausgesprochenen Grundsatz gemäss, das nur dann näher ausführen wenn ich -curca im Sinne von brouiller zu erklären wüsste.
Wie die lexikalische Arbeit zu vereinfachen, bez. zu verkürzen wäre, darüber kann ich kein sicheres Urteil aussprechen. Ich denke auf die Dauer ist sie zu viel für Einen (die Neologismen Rădulescus14 fallen doch nicht sehr schwer ins Gewicht). Es war ja auch seitens der Akademie an ein Zusammenwirken von zweien oder mehreren gedacht. Nun ein solches ist, wenigstens in dem Sinne der Koordination, wohl zunächst ausgeschlossen. |6| Sie müssen das Ganze allein auf die Schultern nehmen, solange die einheitliche Durchführung des Planes noch gefährdet ist; aber Sie können ja schon jetzt jüngere Kräfte sich als Hilfsarbeiter gewinnen oder erziehen. Später werden, um das Unternehmen rascher zu Ende zu führen, Andere sich Ihnen in ganz gleicher Tätigkeit beigesellen, also z.B. einen oder den andern Buchstaben (wie das beim Deutschen Wtb. geschieht15) übernehmen dürfen.
Meinen letzten Artikel über afflare16 brauchen sie überhaupt nicht mehr zu berücksichtigen; ich bin jetzt sicher dass afflare eig. "wittern" bedeutet. Das habe ich freilich selbst nur gewittert, nicht wirklich gefunden; es fehlt an urkundlichen Zeugnissen, vielleicht aber überzeugen Sie die vorgebrachten Analogieen (ich werde Ihnen demnächst eine Korrektur des Artikels17 schicken – Einwendungen erwünscht!). In grösster Eile – ich stehe gegenwärtig mit beiden Füssen ausserhalb der Romania18,
bestens grüssend Ihr erg.
HSch.
1 Alexandru Philippide, dazu vgl. Befußnotung des Briefs Lfd. Nr. 06 in der vorliegenden Edition.
2 Ovid Densusianu, dazu vgl. Befußnotung des Briefs mit der Lfd. Nr. 06 in der vorliegenden Edition.
3 Das einzige Schriftstück von Philippide, das im Briefnachlass Schuchardts in der Universitätsbibliothek Graz verzeichnet ist, ist ein Schreiben vom Oktober 1899 (Bibl.-Nr. 08794, vgl. Melchior (in Vorb.)). Bei der hier genannten Schrift handelt es sich dagegen um die über 90 Seiten umfassende erbitterte Rezension des ersten Bandes von Tiktins Wörterbuch ( Tiktin 1903-1925 ) Specialistul romîn. Contribuţie la istoriea culturiĭ romîneştĭ din secolul XIX (Philippide 1907b) , die in der Universitätsbibliothek Graz aufbewahrt ist und Schuchardts Exlibris trägt.
4 Zum Eintrag von calibre meint er beispielsweise: "Die beiden Herleitungen aus dem Lateinischen sind so phantastisch, dass sie keinesfalls erwähnt werden durften" (Schuchardt 1900). An anderer Stelle heißt es: "[...] franz.drome ("origine inconne" sagt das Dict. gén.; es ist } deutschDrohm, Trum, Trumm [engl. thrum(b)], welches sich z. T. mit deutschem Drahm, Tram, Dramm vermischt hat) [...]" (Schuchardt 1901: 346).
5 Der Briefwechsel zwischen Schuchardt und dem französischen Philologen Gaston Paris (1839-1903) erstreckte sich von 1869 bis zum Tode Letztgenannten. Am 3. Jänner 1900 schrieb Schuchardt in einem Brief: "Welche Lücke soll eigentlich das Dictionnaire général ausfüllen? Littré macht es mir fast entbehrlich; die etymologischen Notizen befriedigen mich grossentheils gar nicht". Die Edition des Briefwechsels zwischen Gaston Paris und Hugo Schuchardt ist in Vorbereitung (Bähler/Hurch (in Vorb.)).
6 Gaston Paris hatte in seinen Besprechungen bei einzelnen Etymologien Schuchardts Zweifel anklingen lassen und ihm indirekt Uneinsichtigkeit vorgeworfen: "je ne comprends pas pourquoi il n’admet pas qu’on lui oppose le traitement de l’f dans chalfer chauffer calefare" ( Paris 1896: 335; vgl. auch Paris 1890: 618f. ).
7 1925 sollte Schuchardt in Bezug auf das "Etymologisieren" schreiben: "Kein Forschungsgebiet ist reicher an Individuellem und Individualitäten als dieses" (Schuchardt 1925b: 11).
8 "In *malifatius wurde f zu v ehe vortoniges e > ĭ schwand, und v bleib dann durch Anlehnung an l geschützt" (Schuchardt 1890: 181). Vgl. auch Schuchardts Antworten auf Kritik (1895; 1896b).
9 Paris hält die Entwicklung f > v für "bien peu probable" ( Paris 1890: 619 ; vgl. auch Paris 1896: 335 ).
10 Graziadio Isaia Ascoli (1829-1907), Orientalist, Begründer der italienischen Dialektologie, war der wichtigste italienische Sprachwissenschaftler seiner Zeit. Schuchardt, den Ascoli sehr schätzte, hatte regen epistolarischen und persönlichen Kontakt zu ihm (vgl. Lichem/Würdinger 2013).
11 Ascoli hatte it.indarno auf ein rekonstruiertes "*invāsno" ( Ascoli 1890-1892: 135 ) zurückgeführt. Aus demselben Stamm *vāsno leitet er auch lat.vāno- und demzufolge it.invano ab.
12 Densusianu (1907: 129) ; vgl. Brief Lfd. Nr. 06 in der vorliegenden Edition.
13 Weigand (1908: 98) ; vgl. Brief Lfd. Nr. 06.
14 Ion A. Rădulescu-Pogoneanu, Mitarbeiter am Projekt des DA (vgl. Befußnotung des Briefes mit der Lfd. Nr. 06 in dieser Edition).
15 1838 waren die Brüder Grimm damit betraut worden, innerhalb von 12 Jahren ein Deutsches Wörterbuch zu verfassen; Jacob übernahm zunächst die Buchstaben A-C sowie E und F, während Wilhelm die Einträge mit D erstellte – weiter sollten sie nicht kommen. Nach Jacob Grimms Tod 1863 arbeiteten mehrere Germanisten unabhängig und ohne übergeordnetes Kontrollorgan weiter, bis sich 1907 die Deutsche Kommission der Preußischen Akademie der Wissenschaften in Berlin des Wörterbuchs annahm und zwei Fachkoordinatoren einsetzte. Dennoch wurde das Werk erst 1960 fertig (vgl. Harm 2014 ).
18 Vermutlich spielte Schuchardt auf seine Berberische[n] Studien I und II (Schuchardt 1908a, 1908b) an.
Faksimiles: Die Publikation der vorliegenden Materialien im „Hugo Schuchardt Archiv” erfolgt mit freundlicher Genehmigung des: Institutul de Lingvistica in Cluj-Napoca (Sig. s.n.4)