Richard Riegler an Hugo Schuchardt (18-09605)

von Richard Riegler

an Hugo Schuchardt

Klagenfurt

14. 01. 1916

language Deutsch

Schlagwörter: Dankschreiben Verleih von Publikationen Schweizer Volkskunde. Korrespondenzblatt der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde Biographisches Kriegsdienst Erster Weltkrieg Politik- und Zeitgeschichte Fernleihe Kaiserliche und Königliche Hof-Bibliothek (Wien) Universitäre Lehre Universität Graz Universität Bonn Literaturhinweise / bibliographische Angaben Internationale Monatsschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik Spanischsprachige Literatur Portugiesischsprachige Literatur Bibliotheken und Bibliothekswesen Literaturbeschaffung Heyse, Paul Schädel, Bernhard Italien

Zitiervorschlag: Richard Riegler an Hugo Schuchardt (18-09605). Klagenfurt, 14. 01. 1916. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2016). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.4353, abgerufen am 28. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.4353.


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Klagenfurt, 14.1.16.

Hochgeehrter Herr Hofrat!

Mit bestem Dank bestätige ich die Rückstellung der Schweizer Zeitschrift. Es war aber durchaus nicht Eile nötig. Ihre freundliche Erkundigung nach meinem Befinden freut mich ungemein. Gesundheitlich befinde ich mich ziemlich wohl, sonst hätte ich gerade auch nicht zu klagen, nur bin ich mit Korrekturen lästiger Art – deutsche Aufsätze! – überhäuft. Komme ich ins |2| Murren, so brauche ich nur an meine Ferialbeschäftigung zu denken – und meine gute Laune ist wieder hergestellt. Das war wohl die schlimmste Periode meines Lebens, vielleicht auch eine gute Schule für späterhin, nur böse, daß man mit 41 Jahren eine solche Schule durchmachen muß. Ich wurde viel hin- und her geworfen. Graz, Friesach, dann wieder Graz, Burgau und schließlich Hartberg, das waren meine Garnisonen. In Hartberg ging es mir leidlich, unter dem milden Regiment eines Reserveoffiziers. Sonst mußte ich mir viel gefallen lassen. Meine Hauptsorge war immer, die Erlaubnis zum Auswärtsschlafen |3| zu bekommen. Meistens gelang es mir; immerhin mußte ich eine Woche in der Reserve schlafen. Dabei hatte ich noch das unverhoffte Glück, zum Nachbar einen Bauer vom Semmering zu haben, einen naiven Burschen, der sich in puncto Folklore bereitwilligst ausfragen ließ. So erzählte er mir auch von Wiesel und Eichhörnchen zwei ganz wunderbare Geschichten, die ich noch nirgends gebucht gefunden. Leider war ich damals zu apathisch – um sie mir zu notieren, jetzt bedaure ich es. – Meine Enthebung verdanke ich eigentlich nur einem Zufall – der Erkankung eines Kollegen, denn durch das Eingehen von Parallelklassen |4| ist ein Philologe überzählig, d.h. in diesem Falle überflüssig. Da ich während meiner ganzen Landsturmperiode geistig gehungert habe, fühlte ich in mir eine große Arbeitslust, die aber sehr gedämpft wurde durch den leidigen Umstand, daß die Hofbibliothek, aus der ich die meisten Bücher entlehnte, solche während des Krieges nicht versendet. Unlängst ist mir ein Buch in die Hände gefallen, auf das ich Herrn Hofrat aufmerksam machen möchte, wenn Sie es nicht schon kennen. Es sind dies die „Jugenderinnerungen und Bekenntnisse“ von Heyse.1 So frisch und flott ist dieses Buch geschrieben, daß es mir besser gefällt |5| als alle seine Novellen.Un[d] dann war ja Heyse seines Zeichens Romanist, deswegen interessierte ich mich von jeher für ihn. In romanischer Grammatik scheint er jedoch nicht fest gewesen zu sein, wie aus seinem Bericht über das Rigorosum, das er bei einem mir unbekannten Bekker2 in Berlin ablegte, hervorgeht, (S. 121). Besonders hatte er sich mit Provenzalen, Spaniern und Altfranzosen beschäftigt. Seine Liebe zu Italien ist späteren Datums. Es ist fast ein Glück für Heyse zu nennen, daß er den Verrat seines heißgeliebten Italiens nicht miterlebt hat. Er ist, wenn ich nicht irre, |6| kurz vor Ausbruch des Krieges gestorben.3 Herr Hofrat hatten das Glück, den Dichter persönlich zu kennen. Ich erinnere mich, daß Sie in Ihrem Beaumarchais-Kolleg – ach, die schönen Zeiten! – ein Gespräch zitierten, das Sie mit Heyse über die Gestalt des Chérubin geführt hatten. Dies wird wohl in Bonn4 gewesen sein. Das Kapitel „Bonner Studien“ (S. 102-128) habe ich mit besonderem Interesse gelesen. Wie hübsch wäre es, wollten Herr Hofrat Ihre Erinnerungen an Heyse veröffentlichen.5 Da ich gerade bei dem Kapitel „Romanistik“ bin, so möchte ich Herrn Hofrat auch auf einen längeren Aufsatz von B. Schädel aufmerksam machen, der in der Internationalen|7|Monatsschrift (Jahrg. 10, Heft 3, S. 302f.)6 erschienen ist: Unsere kulturellen Beziehungen zu Südamerika vor und nach dem Kriege! Der Verfasser klagt über die Vernachlässigung des Spanischstudiums in Deutschland, wobei er auf Frankreich hinweist, das in dieser Beziehung mehr geleistet habe. Er tadelt bei dieser Gelegenheit – in Übereinstimmung mit Ihren Untersuchungen – die einseitige Bevorzugung des Französischen. Vieles in dieser Abhandlung ist mir aus dem Herzen gesprochen, so z.B. der Vorwurf, daß wir von der spanischen u. portugiesischen Literatur Südamerikas gar nichts wüßten u. daß sich kein Mensch damit be- |8| schäftige. Und steht es mit der modernen Literatur Spaniens – das sage ich – viel besser? Wo ist die deutsche Bibliothek, die den großen spanischen Romanciers – ich nenne nur Pereda, Galdós, Ibañez7 – besitzt? Ich habe mir seiner Zeit als Junggeselle um teures Geld einige Werke dieser Autoren angeschafft. Pereda besitze ich fast ganz. Jetzt kann ich es nicht mehr tuen, meine Frau würde ein zu großes Geschrei erheben. Vielleicht bringt die Zeit nach dem Kriege Besserung. Man wird sich mehr mit dem Spanischen beschäftigen als bisher – sind doch die Spanier unter allen Romanen diejenigen, die sich nicht direkt gegen uns gewandt haben.

Nun muß ich aber Herrn Hofrat um Verzeihung bitten wegen dieser ungebührlich langen Epistel. Ich sollte nur über mein Befinden berichten und nun habe ich acht Seiten voll geschrieben. Ihre letzten Veröffentlichungen habe ich leider noch nicht erhalten. Ich würde es sehr bedauern, bekäme ich sie nicht.

Mit den besten Wünschen für Ihr Wohlbefinden verbleibe ich, hochgeehrter Herr Hofrat,

Ihr dankbar ergebener
Rr.


1 Berlin: W. Hertz, 1900, 383 S.

2 „Der junge Heyse ist der erste, der in Berlin das romanistische Doktorexamen abgelegt hat, und zwar 1852, also nach Hubers Scheiden, mit der bekannten Dissertation Studia Romanensia, wobei er von Immanuel Bekker über romanische Grammatik geprüft wurde“ (Alfred Risop, Die romanische Philologie an der Berliner Universität 1810-1910, Erlangen 1910, 76). Der ausführliche Bericht Heyses über sein Rigorosum endet: „Noch jetzt, wenn manchmal in Angstträumen jene Stunde in meiner Erinnerung auflebt, wenn ich die scharfen, trockenen Augen des kleinen Mannes [= Immanuel Bekker] auf mich gerichtet sehe und gewisse Fragen wieder höre, auf die ich verstummte oder eine verkehrte Antwort gab, fühle ich beim Erwachen, daß mir Mörike’s ,examinalischer Schweiß‘ auf die Stirne getreten ist. – Ich erfuhr nachher, selbst seine Collegen hätten dem unerbittlichen Peiniger vorgeworfen, daß er mir keine Gelegenheit gegeben, zu zeigen, was ich wirklich gelernt hatte. Da aber seine Stimme den Ausschlag gab, wurde mir mitgetheilt, daß ich nur multa, nicht summa cum laude bestanden hatte“. – Immanuel Bekker (1785-1871) war von Hause aus Altphilologe, hatte aber in zahlreichen europäischen Bibliotheken Handschriftenstudien betrieben und galt als sprachkundig. Schleiermacher sagte von ihm: „Bekker schweigt in sieben Sprachen“.

3 Paul Heyse, Literaturnobelpreisträger von 1910, ist am 2.4.1914 in München verstorben.

4 Natürlich nicht, denn Heyse, Jg. 1830, hatte 1849/50 in Bonn studiert, als Schuchardt gerade einmal 7/8 Jahre alt war!

5 Erhalten sind sechs Briefe Heyses an Schuchardt aus den Jahren 1886-1905 (HSA, Lfd.Nr.  04717-04722).

6 Bernhard Schädel, „ Unsere kulturellen Beziehungen zu Südamerika vor und nach dem Kriege “, Internationale Monatsschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik 10, 1915-16, Sp. 301-328.

7 José Maria de Pereda (1833-1960), Benito Pérez Galdós (1843-1920), Vicente Blasco Ibañez (1867-1928).

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 09605)