Richard Riegler an Hugo Schuchardt (14-09601)
von Richard Riegler
an Hugo Schuchardt
08. 01. 1915
Deutsch
Schlagwörter: Dankschreiben Publikationsversand Sprachen in Brasilien Politik- und Zeitgeschichte Erster Weltkrieg Sprachwissenschaft (Methoden) Literaturhinweise / bibliographische Angaben Grazer Tagespost France, Anatole Böttcher, Karl Madrid Schuchardt, Hugo (1915) Schuchardt, Hugo (1914)
Zitiervorschlag: Richard Riegler an Hugo Schuchardt (14-09601). Klagenfurt, 08. 01. 1915. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2016). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.4350, abgerufen am 27. 09. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.4350.
Klagenfurt, 8.1.15
Hochgeehrter Herr Hofrat!
Besten Dank für die freundliche Übersendung der formvollendeten Stanzen, um die Sie ein Ariosto beneiden könnte.1 Die Äußerung von A. France ist wirklich sehr betrübend2, um so mehr als dieser ehemals so frei und weitblickende Geist den bornierten Nationalismus à la Barrès aufs entschiedenste bekämpft hat. Kann man von den übrigen da etwas Besseres verlangen? |2| Es ist nur erstaunlich, wie wenig Dankbarkeitsgefühl diese französischen Literaturgeister haben. Wo finden sie im Auslande ein empfänglicheres und liebevolleres Publikum als bei uns Deutschen? Sie werden übersetzt, kommentiert, man schreibt Bücher über sie. Gerade France wurde besonders gut behandelt. Wenn er auch – wie ich höre – kein Wort Deutsch versteht, so kann ihm dies doch nicht ganz unbekannt sein.
Es ist überhaupt schmerzlich für uns Romanisten, daß die Romanen im ganzen und großen gegen uns sind, am wenigsten noch die Spanier. Wenigstens schreibt |3| mir ein höherer spanischer Offizier, dessen Bekanntschaft ich seinerzeit in Barcelona machte, aus Madrid: Los germanófilos constituyen una gran mayoría, no obstante nostra amistosa inteligencia con Francia é Inglaterra.
Da das Problem des Deutschenhasses Sie besonders beschäftigt, wie ich aus Ihrer fesselnden Schrift „Deutsch gegen Französisch und Englisch“3 ersehe, so darf ich Sie, hochgeehrter Herr Hofrat, vielleicht auf eine im Jahre 1906 erschienene Broschüre „Germania im Auslande. Unangenehme Wahrheiten“ von dem Reiseschriftsteller Karl Böttcher aufmerksam |4| machen.4 Nach diesem Autor – leider schreibt er oberflächlich und affekthaschend – sind die Gründe für die Unbeliebtheit der Deutschen im Persönlichen zu suchen, wenigstens zum großen Teile. Hiebei sind nach meinem Gefühl nur die Trunksucht und die Vernachlässigung des Äußeren allgemein deutsche Fehler, alles übrige, besonders das „Schnauzen“ und die „Schneidigkeit“ ist norddeutsch. Falls sich Herr Hofrat dafür interessieren, schicke ich Ihnen das Schriftchen, das ich augenblicklich allerdings verliehen habe. – Haben Herr Hofrat in der heutigen „Tagespost“ die Äußerung |5| von B. Shaw gelesen?5 Sie hat mich sehr gefreut. Man sieht, gerade unter den so ingrimmig gefaßten Engländern gibt es noch Leute, die sich den klaren Blick und die Objektivität gewahrt haben. Ich möchte übrigens wissen, welcher künftige Historiker so viel geniale Begabung haben wird, um aus dem Gewirr gegenseitiger Anklagen und Beschuldigungen die tatsächlichen Verantwortungen festzustellen. In jedem der kriegsführenden Länder hat es die Regierung meisterhaft verstanden, das Volk von der Gerechtigkeit seiner Sache zu überzeugen. Allerdings so gut wie Wilhelm |6| hat es Keiner getroffen.
Doch ich gerate in ein unverschämt weitschweifiges Plaudern und nehme Ihre kostbare Zeit in ungebührlicher Weise in Anspruch.
Verzeihen Sie diese Expectorationen – lateinische Fremdwörter darf man zum Glück noch gebrauchen –
Ihrem hochachtungsvoll
ergebenen
R. Riegler
1 An die Portugiesen. Deutscher Neujahrsgruß 1915, Graz 1915.
2 Vgl. zu Einzelheiten den Brief Karl Ettmayers an Schuchardt vom 7.1.1915 (HSA, Lfd.Nr. 19-02807).
3 Graz: Leuschner & Lubensky, 1914.
4 Wien: Thüringer Verlags-Anstalt, 1906 , 81 S.
5 Vgl. Stanley Weintraub, Silent Night. The remarkable Christmas Truce of 1914, London 2014.