Heinrich Morf an Hugo Schuchardt (28-07519)

von Heinrich Morf

an Hugo Schuchardt

Wildhaus

07. 02. 1917

language Deutsch

Schlagwörter: Einschreiben Manuskriptversand Gesundheit Königlich-Preußische Akademie der Wissenschaften (Berlin) Sitzungsberichte der königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften Publikationsvorhaben Etymologie Sonderabdruck Druckfehler Publikationsversand Erster Weltkrieg Politik- und Zeitgeschichte Ive, Antonio Urtel, Hermann Schuchardt, Hugo (1917) Pirona, Jacopo (1871) Schuchardt, Hugo (1916)

Zitiervorschlag: Heinrich Morf an Hugo Schuchardt (28-07519). Wildhaus, 07. 02. 1917. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2016). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.4254, abgerufen am 30. 09. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.4254.


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Prof. Dr. Heinrich Morf                                hs. Wildhaus (Toggenburg) Schweiz100 Kurfürstendamm                                 Berlin-Halensee, den 7.II.17

Hochverehrter lieber Freund,

Sie werden nicht wenig verwundert sein, zu vernehmen, dass Ihr eingeschriebenes Manuskript (samt dem Briefe vom 26. Jan.) mich hier im heimatlichen Hochgebirge erreicht hat, und dass er nun heute, ebenso wohl behütet, die Rückreise nach Berlin zur Akademie antritt.1 Ich habe nämlich nach Neujahr einen Erholungsurlaub angetreten, besonders deshalb, weil die spezifische Ernährung, deren ich als Diabetiker bedarf, in Berlin nicht mehr durchgeführt werden konnte. Nach Ostern kehre ich wieder, zum Sommersemester, zurück; mein kleiner Viehstand in Neu-Brandenburg (Meckl.) sichert mir dann das Unentbehrliche (Eier, Fett etc.). Vielleicht ist auch bei mir die Ursache des Leidens – das mich übrigens seit zwanzig Jahren nicht wesentlich reduziert hat – in der rätselvollen Milz zu suchen; man weiss ja bekanntlich nichts ganz Sicheres über die Ursache der Stoffwechselstörung des Diabetes. Wir ,sympathisieren‘ also sehr zusammen. – Kennen Sie übrigens die Redensart: ,Er hät es wisses Milzi‘ (berndeutsch) = ,Schürzenjäger sein‘? Das |2| ,wisse Milzi‘ bildet einen hübschen Gegensatz zum span. bazo.2 Spielt die Milz vielleicht auch sonst eine Rolle in der Erotik des Folklore? Ich bin hier ohne alle literarischen Hilfsmittel, rein den herrlichen Bergwinter geniessend, im Kreise der Kinder (meiner beiden verheirateten Töchter aus Frankfurt und Berlin) und der Enkel. Natürlich ist auch meine Frau dabei, und wir sind alle in den 20 Tagen, die wir vorläufig hier verbracht haben, ordentlich verjüngt worden. Grossmutter & Grossvater rodeln mit der Jugend um die Wette – zum Skifahren sind sie freilich nun zu alt.

Ich habe Ihre Ausführungen mit dem grössten Interesse, aber nicht durchweg mit dem gleichen Verständniss, gelesen. Ich bin eben ,Nur-Romanist‘, und die Schäden dieser Einseitigkeit sind mir wieder sehr zum Bewusstsein gekommen. Wo ich mir ein Urtheil erlauben darf, haben Sie mich überzeugt (und natürlich an den andern Stellen erst recht). Nur das findet mich ungläubig, dass die übertragene Bedeutung in span. alegrarse la pajarilla ,die eigentliche Bedeutung pajarilla = (menschliche) Milz nicht voraussetzt‘. – Gibt das rätorom. (ausser Pirona 3) nichts her? Dort sind, wenn ich mich recht erinnere, ,Lunge‘ & ,Leber‘ als das ,Weiche‘ (lom) & das ,Harte‘ ( dir) bezeichnet (surselv.) – und die ,Milz‘? – Gibt es im Spanischen Spuren eines einstigen lobazo statt el bazo ,Milz‘ = ,das Dunkle‘, denn über lo bazo = o-paciu ist wohl die Entwicklung gegangen? - ,Chalbervögel‘ ist auch berndeutsch vorhanden & gewiss im Idiotikon verzeichnet. – Aus dem Rumänischen |3| ist mir für ,Pupille‘ die Metapher ,Schnecke des Auges‘ melcul ochiului in Erinnerung. – Die Entstehung von κόρη - pupilla ist mir immer noch unklar: dass man im Spiegelbild der Pupille irgendein anderes menschliches Wesen – statt sein eigenes Bild – sehen soll, findet mich ungläubig.

Es ist mir eine grosse Freude, Ihren Aufsatz der Akademie zur Veröffentlichung übergeben zu dürfen & es thut mir nur leid, dass die Drucklegung nun durch den Umweg, den Ihre Sendung über Wildhaus genommen hat, sich um ein Weniges verzögert. Der Poststempel zeigt, dass das Ms. am 31. Jan. in Berlin ankam; am 7. Febr. traf es hier ein; es ist anzunehmen, dass es am 14. wieder in Berlin sein wird. Dann wird es gewiss auch gleich zur Druckerei gehen. Separata erhalten Sie auf Wunsch bis zu 150 Stück (wenn ich nicht irre).

Vielen Dank für Ihre Bemerkungen zum ,Galeotto‘ .4 Die zwei Druckfehler habe ich nachträglich auch selbst bemerkt. Ein anderer Fehler – ein Rechenfehler – ist auch |4| von Ihnen unbemerkt geblieben (gleich in der ersten Zeile). – Wenn in Berlin noch Separata des ,Galeotto‘ vorhanden sind, so werde ich Koll. Ive5, den ich schönstens zu grüssen bitte, gerne ein Ex. zugehen lassen.

Urtel ist eifrig an der Arbeit; ich selbst kann, solange die Verpflegungsverhältnisse mir das Reisen in Deutschland unmöglich machen, leider nicht mehr mitthun.

Auch im Namen der Meinen – wir sind, meine Schwester mitgerechnet, hier zu acht – sende ich Ihnen die herzlichsten Grüsse und Wünsche. Möge Ihnen in Graz so viel Sonnenschein beschieden sein, wie uns hier. Man bedarf seiner in dieser dunklen Zeit doppelt. Die Illusion des Friedens, die über dieser wunderbaren Berglandschaft liegt, thut einem wohl. Wir haben seit drei Wochen keinen Soldaten gesehen.

Ihre Abhandlung über Berb. Hiatust.6 werde ich nun erst nach meiner Rückkehr zu Gesicht bekommen; meinen Dank für das Geschenk darf ich aber schon jetzt senden. Vielleicht kann ich bald etwas über gallus7 in Frankreich oder über den Tartuffe8 schicken. Aber heute ist manches ungewisser als einst.

Ihr verehrungsvoll & herzlich ergebener
H. Morf


1 Ms. von „Zu den romanischen Benennungen der Milz“, gedr. in: SB der Kgl. Preuss. Ak. d. W., 1917, 156-170

2 Span. Bez. für die „Milz“, zugleich auch die Farbe „Dunkelbraun“, was vermutlich auf die antike Säftelehre zurückgeht.

3 Jacopo Pirona , Vocabulario friulano, Venedig 1871.

4 „Galeotto fu il libro e chi lo scrisse“, SB d. Kgl. preuss. Akad. d. Wiss. 43, 1916.

5 Antonio Ive (1851-1937), seit 1893 Schuchardts Grazer romanistischer Kollege.

6 „Berberische Hiatustilgung“, SB d. Wien. Ak. 182, 1916, 1-60

7 „Geschichte der lateinischen Wörter gallus, gallina, pullus im Galloromanischen“, 4.2.1915 in der Akad. vorgetragen, aber nicht im Druck nachgewiesen.

8 „Molières Hoffestspiel vom Tartuffe (1664)“, Aus Dichtung und Sprache der Romanen, 3. Reihe, Berlin-Leipzig 1922, 67-107.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 07519)