Heinrich Morf an Hugo Schuchardt (26-07517)
von Heinrich Morf
an Hugo Schuchardt
19. 08. 1916
Deutsch
Schlagwörter: Biographisches Reisen Politik- und Zeitgeschichte Dankschreiben Publikationsversand Lebenswerk Erster Weltkrieg Universität Berlin (Friedrich-Wilhelms-Universität) Seminarbibliotheken Romanische Philologie Frauenstudium Frauen in der Wissenschaft Urtel, Hermann Stünkel, Ludwig Schuchardt, Hugo (1916) Schuchardt, Hugo (1916)
Zitiervorschlag: Heinrich Morf an Hugo Schuchardt (26-07517). Neubrandenburg, 19. 08. 1916. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2016). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.4252, abgerufen am 02. 10. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.4252.
PROF. DR. H. MORF 100 Kurfürstendamm (Berlin-Halensee d., gestr.) Neubrandenburg (Meckl.) 19.VIII.16
Hochverehrter lieber Kollege & Freund,
Die Karte, mit der ich Ihnen kurz dafür gedankt habe, dass Sie so freundlich sich nach meinem Ergehen erkundigt haben, hat sie wohl längst erreicht: inzwischen habe ich die Semesterarbeit zu Ende führen können, & was von unwillkommenen Nachwehen noch geblieben sein mag, dass (sic) soll hier in der mecklenburgischen Sommerfrische weggebadet & wegmarschiert werden. Wir leben hier, wie voriges Jahr, ein Idyll so schön es in Kriegszeiten gefunden werden kann & das Zusammensein mit Kindern & Enkeln schafft für halbe Tage die Illusion des Friedens. Meine jüngste Enkelin, ein fünfjähriger Blondkopf, stellt die Verbindung zwischen unserer ländlichen Einsamkeit & der Stadt & dem Markte her, holt uns die Milch |2| & das Brot, kauft beim Krämer, trägt die Briefe zur Post, füttert unsern ,Thiergarten‘, Hühner, Kaninchen, Enten, Gänse – und uns Alten bangt vor der Zeit, da unsere kleine „Nährmutter“ uns verlassen wird, da die Ferien ihrer Eltern abgelaufen sein werden & sie nach Frankfurt zurück muss.1 Wie dankbar geniesst man jetzt Alles, was man früher wie eine Selbstverständlichkeit hingenommen hat.
Hoffentlich werden wir hier auch bald den Besuch unseres gemeinsamen Freundes Urtel haben, der uns auch seine Frau bringen will. –
Herzlich danke ich Ihnen für Ihr ,Verzeichnis‘2, ein stolzes Inventar wissenschaftlicher Arbeit – ein vorläufiges Inventar, wie wir alle von Herzen wünschen, dem ein noch recht langer Nachtrag mit N° 665ff folgen soll. Seit Ihrer Kritik der Stünkel’schen Preisarbeit anno 1877 habe ich Alles bewusst miterlebt, so weit es Romanica sind (übrigens arbeitet zur Zeit eine Schülerin über die Sprache der Lex rom. utinensis)3 und das sind nun auch schon bald 40 |3| Jahre her. – Aber weit über die Romania hinaus greift Ihre Arbeit seit ebensolanger Zeit, und nur aus der Ferne & unsicheren Blickes, kann der Nur-Romanist ihr folgen. Lernbegierig aber that er jederzeit auch dies. – Darf das Romanische Seminar die Bitte wagen, dass auch es ein Exemplar des ,Verzeichnisses‘ erhalte? Wie Viele werden es Ihnen im Laufe der Jahre danken – besonders wenn eine Aufschrift von Ihrer Hand das Geschenk als solches bezeichnet. –
Die Universitätsarbeit hat in Berlin durch den Krieg keine wesentliche Verringerung erfahren. Die Zuhörerzahlen sind noch sehr ansehnlich. Das Seminar gab immer noch etwa 160 Semesterkarten aus & die Zahl der ordentl. Mitglieder belief sich immer noch auf 20, trotz strenger Auf- |4| nahmeprüfung. Aber die Mehrzahl der Teilnehmer sind Damen. Dass ich darob ein Sinken des wissenschaftlichen Niveaus bemerkt hätte, kann ich nicht sagen & Urtel, der den Übungen meist beiwohnte, hatte auch nicht den Eindruck. Das ist ein Trost, der einen arbeitsfreudig erhält. Freilich tritt das nach aussen nicht in Erscheinung, aber das Heim & die Studierstube wird dadurch erhellt. –
Wir wollen, wenn nichts dazwischen kommt, bis zum Oktober hier bei den gastlichen Obotriten bleiben.
Lassen Sie es sich gut gehen und senden Sie recht bald n° 665 ff an Ihre dankbaren Fachgenossen & Freunde.
Mit herzlichen Grüssen & Wünschen, auch von meiner Frau,
Ihr getreuer
H. Morf.
1 Morfs Schwiegersohn Gustav Noll unterrichtete am Frankfurter Goethe-Gymnasium die Fächer Französisch, Deutsch, Englisch und Latein. Der „fünfjährige Blondkopf“ ist Gustav und Berthas Tochter Traute, gen. „das Trautchen“ .
2 Verzeichnis der Druckschriften, Graz 1916. Der letzte Eintrag Nr. 664 ist die „Berberische Hiatustilgung“, Sitzungsberichte d. Wien. Ak. 182, 1916, 1-60.
3 Nicht nachgewiesen. Zu Stünkel vgl. den Brief Adolf Toblers an Schuchardt vom 28.4.1890 (HSA, Lfd.Nr. 11713).