Adolf Tobler an Hugo Schuchardt (06-11711)

von Adolf Tobler

an Hugo Schuchardt

Berlin

01. 03. 1877

language Deutsch

Schlagwörter: Wissenschaftliche Diskussionen und Kontroversen Diezstiftung Rundschreiben Universität Berlin (Friedrich-Wilhelms-Universität) Universität Bonn Königlich-Preußische Akademie der Wissenschaften (Berlin) Universität Rom-La Sapienza Rivista di Filologia Romanza Diez, Friedrich Delius, Nikolaus Förster, Wendelin Mussafia, Adolf Mommsen, Theodor Bonitz, Hermann Mätzner, Eduard Adolf Ferdinand Sybel, Heinrich von Monaci, Ernesto Ascoli, Graziadio Isaia Paris, Gaston Bonn Graz Storost, Jürgen (1992)

Zitiervorschlag: Adolf Tobler an Hugo Schuchardt (06-11711). Berlin, 01. 03. 1877. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2016). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.4041, abgerufen am 28. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.4041.


|1|

Berlin S.W. Großbeerenstr. 65. 1/3.77.

Geehrtester Herr College,

Sie sagten in Ihrem ersten Schreiben in der Diez-Stiftungs-Sache, Sie wären zu einer nachdrücklichen Propaganda gegen das Vorgehn des Berl. Comités entschlossen; darauf hin schien es mir überflüssig, dieses ausführlich zu rechtfertigen & Ihre Einwendungen anzufechten. Auch heute kann ich das nicht unternehmen; ich bin dermaßen von den Geschäften des Decanats in Anspruch genommen, daß mir nur für wenige Zeilen Zeit bleibt; zudem ist ja gegenwärtig die Discussion jedenfalls verspätet: das Comité hat ein paar hundert Exemplare seines Aufrufs in die Welt gehen lassen; auf den (handschriftlich mitgetheilten) Wortlaut desselben hin haben die im Prospecte genannten ausländischen & inländischen Fachgenossen sich bereit erklärt Zweigcomités zu bilden, es sind auch schon Beiträge eingelaufen; da werden Sie selbst es für unmöglich halten zum Rückzuge zu blasen einem vor der Hand noch durchaus nicht formulirten Gegenprojecte gegenüber. Ich bleibe aber bei dem, wofür ich bisher zu wirken bemüht gewesen bin, nicht bloß deswegen, |2| weil ich nicht zurück kann, sondern weil ich es nach wie vor für das Richtige und zunächst allein Mögliche halte. Als Sitz des Comités konnte für mich außer Berlin, der Hauptstadt des Reiches und des Landes, denen Diez als Bürger angehört hat, nur Bonn in Betracht kommen; aber die Personen, welche dort sich hätten an die Spitze stelle müssen, eigneten sich wenig für die Art von Thätigkeit, welche erfordert war: Delius1 rechnet sich selbst kaum zu den Romanisten und hat an seiner Taubheit etwas was ihm ser hinderlich gewesen wäre; Förster2 ist in Bonn noch nicht heimisch geworden & konnte die Franzosen nicht zur Betheiligung einladen. Wien scheint mir völlig abseits zu liegen: wenn Sie sagen wollen, Mussafia3 hätte den Aufruf erlassen sollen, nicht ich (der ich ihn ja übrigens mit 11 Genossen unterzeichnet habe), so haben Sie hundertmal recht; aber wie Wien dazu käme, hier Berlin voranzustehn, das verstehe ich ganz & gar nicht. – Zum Comité habe ich sodann nur wenige Romanisten beigezogen & dafür eine Menge Leute, |3| bei deren Namen Sie fragen, wieso? Ich nahm an, die Romanisten würden alle selbstverständlich ohne Aufforderung als geborne Agenten einer Sache solcher Art dem Comité zugehören, & sie könnten doch, so viel ihrer wären, mir die Verbindung mit der Academie, mit der Regierung, mit den Gymnasien und Realschulen, mit den Germanisten, mit Bonn nicht gewähren, die durch die Mitgliedschaft von Mommsen, Bonitz, Mätzner, Sybel4 u.s.w. gegeben ist. – Das Ausland ist vom frühesten Anfang an (lange bevor Monaci5 an sein Denkmal dachte) von dem Vorhaben in Kenntniß gesetzt gewesen; das Ausland, ich meine Ascoli & Paris6 & Mussafia; hätte ich einen Secretär (ein Copist würde nicht genügen), so würde ich noch an sehr viele andre haben schreiben lassen. So that ich, was ich konnte, & was mir das unerläßlichste schien, darunter eingies was mir nicht grade leicht wurde (Bartsch hat schwerlich darauf gerechnet je einen Brief von |4| mir zu bekommen7). – Wären Sie nun nicht in Graz, & hätte nicht Mussafia die Obsorge für Oesterreich übernommen, so würde ich schon früher mich mit Ihnen in Verbindung gesetzt haben; & ich bin weit entfernt, es unbillig zu finden, wenn Sie der Meinung sind, man hätte doch erst mit Ihnen discutiren sollen, bevor man Ihnen literarische oder andre Beihilfe zumuthete. Es versteht sich ganz von selbst, daß ich Ihnen keine Opposition irgend verdenken darf; & so bin ich denn auch fern von aller Gereiztheit, wenn gleich Sie dergleichen in meinem letzten Briefe verspüren wollen. Befremdet hat mich allerdings, daß Sie jene Stelle meines Briefes abdruckten, welche besagt, was meine hauptsächliche Tendenz bei der Gründung sei, wie ich Jedem gern sage aber mich gehütet habe im Aufrufe auszusprechen. Sie könnten doch kaum der Ansicht gewesen sein mir einen Dienst zu erweisen, als Sie einen Gedanken, über den ich mich so geäußert hatte, in der Allg. Z. der öffentlichen Beurtheilung anheim gaben, ohne natürlich zugleich die Erwägungen dem Publikum vorlegen zu können, die mich bei meinem Verfahren leiteten. Daß Sie meinen Namen nicht mit den üblichen 6 sondern mit beträchtlich mehr Buchstaben geschrieben haben, soll Ihnen gern zugestanden sein.8 Daß auch anderwärts dem Berliner Comité eine etwas kühle Stimmung entgegen kommt, weiß ich wohl; auch ich kenne einen Norddeutschen – es ist vielleicht der Ihre – dem vor der Concentration alles persönlichen Einflusses in Berlin bange ist; doch nein, derselbe ist es nicht; denn meiner hat mir geschrieben, er wolle trotz aller Bedenken mir helfen, für die Sache wirken, auch den Aufruf abdrucken lassen, und der Ihre scheint sich Ihrer Opposition zu freuen.

Ihr ergebenster
Tobler.Storost, Hugo-Schuchardt, 1992, Nr. 10, 16-17.


1 Nikolaus Delius (1813-1888), Indologe, Anglist und Romanist, 1846 Privatdozent, 1855 erster ao. Professor für englische Philologie in Bonn, 1866 (unbesoldeter) ordentlicher Titularprofessor, 1879 Honorarprofessor.

2 Wendelin Förster (1844-1915), von 1876 bis 1908 romanistischer Ordinarius in Bonn, vgl. HSA, Bibl. Nr. 03092-03106 (1878-1912).

3 Adolf (Adolfo) Mussafia (1835-1905), seit 1860 ao., 1867 o. Professor der Romanistik in Wien, vgl. HSA, Bibl. Nr. 07635-07691 (1867-1905).

4 Theodor Mommsen (1817-1903), seit 1858 Professor der alten Geschichte der Universität Berlin, vgl. HSA, Bibl. Nr. 07438 (1872); Hermann Bonitz (1814-1888), seit 1867 Direktor des Gymnasiums zum Grauen Kloster in Berlin, seit 1875 Vortragender Rat für das höhere Schulwesen, seit 1867 o. Migl. der Berliner Akademie; Eduard Adolf Ferdinand Mätzner (1805-1902), seit 1873 Direktor der Luisenschule; Heinrich von Sybel (1817-1895), seit 1844 Professor der Geschichte an der Berliner Universität, 1875 Direktor der Preußischen Staatsarchive und des Berliner Geheimen Staatsarchivs.

5 Ernesto Monaci (1844-1918), italienischer Romanist, der von 1874-1918 an der römischen Universität La Sapienza wirkte, vgl. HSA, Bibl. Nr. 07493-07455 (1877-1915). In der von Monaci hrsg. Rivista di filologia romanza (Bd. 2, 1876, H. 4, 250) wurde erstmals der Plan eines Diez-Denkmals erörtert und wurden für diesen Zweck 100 Lire bereitgestellt, vgl. Anm. 2 zu Brief 04-11709.

6 Graziadio Isaia Ascoli (1829-1907), italienischer Sprachwissenschaftler, Mitglied mehrerer europäischer Akademien, vgl. HSA, Bibl. Nr. 00201-00339 (1869-1905); Gaston Paris (1839-1903), Begründer der französischen Romanistik, vgl. HSA, Bibl. Nr. 08562-08659 (1869-1903).

7 Karl Friedrich Bartsch (1832-1888), seit 1871 Romanist in Heidelberg, vgl. HSA, Bibl. Nr. 00551-00554 (1872-1879). Über Spannungen zwischen Bartsch und Tobler ist nichts bekannt.

8 Schuchardt nennt Tobler nicht, sondern umschreibt seinen Namen mit  „Derjenige welcher sie wohl hauptsächlich angeregt hat“.

9 Storost, Hugo-Schuchardt, 1992, Nr. 10, 16-17.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 11711)