Ernest Bovet an Hugo Schuchardt (01-01289)

von Ernest Bovet

an Hugo Schuchardt

Zürich

09. 03. 1902

language Deutsch

Schlagwörter: Etymologie Phonetische Studien experimentelle Phonetik Dokumentationstechnik/-methoden Publikationsvorhaben Berufungen Universität Zürichlanguage Romanische Sprachenlanguage Romanescolanguage Obersorbisch Wulff, Frederik Amadeus Rousselot, Jean-Pierre Rom Schuchardt, Hugo (1902) Schuchardt, Hugo (1904) Rice, Carl C. (1904) Schuchardt, Hugo (1871) Schuchardt, Hugo (1886)

Zitiervorschlag: Ernest Bovet an Hugo Schuchardt (01-01289). Zürich, 09. 03. 1902. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2016). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.3810, abgerufen am 28. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.3810.


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Prof. Dr. E. Bovet
Pestalozzistrasse 28
Zürich
Zürich, den 9ten
März 1902.

Hochgeehrter Herr Kollega!

Meine Schrift über andare ist ein Sonderdruck aus den „Scritti vari di filologia“ zu Ehren von Monaci, Forzani 19011 (aber erst 1902, vor einem Monat, erschienen). Meine Absicht war einfach, einen Beitrag zu liefern zum Beweise der logischen, historischen Notwendigkeit der Etymologie ambulare; der zweite Teil, die phonetische Entwicklung, scheint mir selber keine zwingende Demonstration zu sein. Da mir aber ein Suffixwechsel sehr unwahrscheinlich erscheint, blieb kaum ein anderer Weg offen als der Imperativ mit dem Wulffschen Δ.2 Die Entscheidung kann noch von drei Seiten herkommen: von den älteren Texten – da sehe ich doch wenig Hoffnung, wegen der Latinisirung –, von den Mundarten, und von den Registrirapparaten; ich teile zwar die kühnen Hoffnungen eines Rousselot3 nicht, glaube doch dass in gewissen Fällen diese Apparate Dienste leisten werden, wo unser Ohr und unsere Theorien versagen. Man wird vielleicht die Existenz von mehr als einem ungeahnten Δ nachweisen können. Als ich anno 1894 in Trastevereromanesco studierte, gelang es mir nie das Wort annámo zur vollen Befriedigung meiner Römer auszusprechen. Erst später merkte ich, dass das zweite n etwas von einem d enthält, si peu que rien – und doch genug um dem Worte einen ächt römischen Klang zu geben.

Da von romanesco die Rede ist, bemerkte ich nebenbei, dass |2| mein zweiter und letzter Band über das römische Volk nach Belli dieses Jahr hätte erscheinen sollen, wenn nicht die Berufung nach Zürich4 eine andere, sehr schwere Last mir auferlegt hätte5. Wie sehr ich auch wünsche, mit der Arbeit fertig zu sein, will ich doch nichts überstürzen, denn Band II soll besser sein als der sehr jugendliche Band I. Punkto Jugend, möchte ich jedoch diejenige haben und behalten, welche dem Herzen aus der Wissenschaft immer neu zufliesst und Ihre Werke, lieber Herr und Meister, zur Freude des Geistes hat entstehen lassen.

Mit herzlichem Grusse

Ihr dankbarer

EBovet.


1 Bovet, „ Ancora il problema ,andare‘ “, Scritti vari di filologia à Ernesto Monaci gli scolari 1876-1901, Roma: Forzani, 1901, 243-262.

2 Fredrik Wulff, „ ANDARE, ANDAR; AMNAR, LAR; ANAR, ALLER “, Romania 27, 1898, 480-481: „L’explication se présente à l’aide de l gras, la vibrante apicale cacuminale (Δ dans le système de Lyttkens et Wulff, voy. Un chapitre de phonétique, dans le Recueil offert a M. G. Paris en 1889, p. 245 et 255); ce Δ a le son à la fois d’un d gras, d’un n gras et d’un r lingual, p. ex. en Sicile et en Andalousie; il est donc suffisamment dental pour réduire m à n“; weiterhin Schuchardt, ZrP 26, 1902, 393f. bzw. 28, 1904, 52f. bzw. 32, und, die Diskussionen zusammenfassend, Carl C. Rice, „The Etymology of the Romance Words for ,To go‘“, PMLA 19, 1904, 217-233. Schuchardt schreibt zu Bovets Aufsatz (ZrP 26, 1902, 393f.): „Im Ernste brauche ich hier die monogenetische Ansicht nicht zu verteidigen; das ist zum so und so vielten Male und in besonders nachdrücklicher Weise von E. Bovet in dem mir soeben zugesandten Aufsatze ,Ancora il problema andare‘ geschehen. Im Einzelnen wird man sich wohl nicht sofort einigen. So muss ich gestehen, dass wie sehr ich auch F. Wulff als Phonetiker schätze, seine lautgeschichtliche Entwicklung von ambulare mir ganz unwahrscheinlich ist; ja, da er selbst auf jede Begründung verzichtet, so verstehe ich nicht einmal wie wir uns das allerortige Einspringen des Tausendkünstlers Δ für l zu denken haben. Ich war sehr überrascht, als ich die Anmerkung von G. Paris dazu las, in der er dem Wulffschen Stammbaum den Preis zuerkennt; vielleicht hat ihn gerade die dogmatische Kürze bestochen. Man sollte meinen, dass die Annahme einer Suffixvertauschung bei ambulare wie eine vermittelnde Ansicht, den Polygenetikern noch am ehesten zusagen würde; was Bovet dagegen vorbringt scheint mir nicht schwer ins Gewicht zu fallen, darüber wird noch bei andern Gelegenheiten zu reden sein“.

3 Jean-Pierre Rousselot (1846-1924), franz. Geistlicher, Gründer der Phonemforschung, 1886 Konstrukteur eines Apparats zur Messung von Phonemen; 1889 Leiter des von ihm begründeten weltweit ersten Phonetiklabors am Institut Catholique de Paris.

4 Bovet wurde im Jahr 1902 als Nachfolger von Heinrich Morf nach Zürich berufen.

5 Bovet, Le peuple de Rome vers 1840; d’après les sonnets en dialecte transtévérin de Giuseppe Gioachino Belli; contribution à l’histoire des mœurs de la ville de Rome, Zürich 1895 (Diss.); die Buchausgabe Neuchâtel-Rom 1897 enthält drei weitere Kapitel; der 2. Bd. ist nicht erschienen. – Vgl. auch Schuchardt, „G. G. Belli und die römische Satire“, Romanisches und Keltisches (Anm. 11), 150-179.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 01289)